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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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Mittellosigkeit vor Gästen zu verbergen. Die staatlichen Einrichtungen tragen ihre Blöße vor sich her und machen aus der Kümmerlichkeit einen aktenkundigen Zustand.
    Nach Mitternacht auf arte ein Film über Benny Lévy, einen der Gründer der Gauche prolétarienne, der sich nach den Ereignissen des Mai 68 unter dem Einfluß von Levinas vom politischen Engagement lossagte, um sich ganz der »Zeitlosigkeit« des geistigen Studiums zu widmen – Plato und Talmud. Starb im Jahr 2000 in Jerusalem, enger Freund von Alain Finkielkraut und Bernard-Henry Lévy, trotz starker Gegensätze zu beiden. Der Film hatte eine unleugbare spirituelle Schwingung, als wollte er sagen: Jude ist jemand, der das Jüdischsein täglich übt. Was die Amateure für Glauben halten, ist aus der Sicht der Eingeweihten nichts anderes als das Ergebnis des ständigen Exerzitiums.
    Von den Rheintöchtern ein Lebenszeichen vom Grund des Stroms. Im Traum, war es gestern oder vorgestern? schaue ich an mir hinunter; bemerke eine gewisse Überfunktion, begleitet von einer heftigen Genugtuung über das nackte Daß.
    Lege für das Seminar morgen Fotokopien aus Augustinus und Levinas bereit.
9. Mai, Karlsruhe
    Der ethische Primat des Morgens: dann entscheiden wir, ob wir das Programm wiederaufnehmen.
    Das wäre der Moment, den Streik gegen den Tag auszurufen, gegen die Termine, gegen die Idee der Verpflichtung, ja, gegen den Beruf überhaupt. Bloß weil die Sonne schon scheint, wenn du wach wirst, mußt du nicht gleich in die vita activa losrennen. Bleib liegen, verzichte auch auf den Vorwand einer Krankheit. Es käme einfach darauf an, die Leinen zu kappen …
    In dem gestrigen Film auf arte sah man einen Ausschnitt aus einer Rede von Levinas in Paris vor jüdischem Publikum. Darin hieß es einigermaßen pathetisch, Denken entstehe aus der Beziehung zwischen der Schrift und dem Kommentar, nicht aus der Reflexion über sich selbst. Die antiphilosophische Pointe war nicht zu überhören, ebensowenig ein Element von Bigotterie.
    Was bleibt von dem schönen Plan zum Widerstand gegen die Pflicht? Vormittags von zehn bis eins das Seminar über die Ethik von Levinas, bis an die Grenze der Erschöpfung und darüber hinaus. Kraftfordernde Gespräche mit Yana und Kollegen folgen. Im Büro brauchen die Sekretärin und ich weitere Stunden, um dreißig, vierzig Vorgänge abzuwickeln, Briefe, Mails, Anfragen, hausinterne Entscheidungen, Einladungsabsagen. Aufeinem solchen Posten kann ohne Abstumpfung nur überleben, wer für einen Vorgang im Durchschnitt nicht mehr als zwei, drei Minuten benötigt, obschon man jeden einzelnen zu einer Affaire von einer Stunde und manchen zu einem Tagesthema aufblasen könnte, bei einer Fehlerquote unter zwei Prozent.
    Abends eine halbe Stunde auf dem Gartenstuhl in der späten Sonne. Was mir guttut, tue ich nicht, was mir schadet, tue ich.
    Wer spricht von Heilung? Meistens genügt es, eine neue Sprache zu lernen – bis du in fließendem Therapeutisch über deine Beschwerden reden kannst.
10.-12. Mai, St. Blasien
    Pfingsten im Südschwarzwald. Die abendlichen Wanderungen der Kühe am Waldrand oben in Althütte, stundenlang hin und her, scheinen automatische Vorgänge zu sein. Schaut man eine Weile zu, entsteht der Eindruck, die großen Tiere seien Suchende, die von ihrer Benommenheit durch die Grasfresserei loskommen wollen. Indem sie geduldig hintereinander hertrotten, folgen sie der Ahnung, irgendwo vor ihnen müsse es ins Offene gehen.
    Höre einen faszinierenden Bericht von Pater Köster (in der Delp-Halle, die sonst als Sportstätte dient) über die jüngste Generalkongregation des Jesuitenordens in Rom und die Rituale, die bei der Wahl eines neuen Oberen einzuhalten sind. Die Entscheidung sei diesmal schon im 2.Wahlgang gefallen. Vor der Stimmabgabe mußte ein einstündiges Silentium gewahrt werden, damit jeder einzelne Wähler dem Heiligen Geist Gelegenheit böte, sein Votum zu lenken. Jede Art von »Wahlkampf« oder Propaganda für dieses Amt sei im Orden tabu. Es scheint, man arbeitet auf das Ideal der puren Medialität zu. Daß die traditionsgemäß als Selbstlosigkeit mißinterpretiert wird, steht auf einem anderen Blatt. Medien sind nicht selbstlos, sie verdienen mit an dem, was durch sie hindurchgeht, sei es subtil, sei es in handfesten Provisionen. Ungeeignet ist, wer sich selbst hörbar ins Gespräch bringt.
13. Mai, Paris
    Abends im Innenhof des St. James & Albany, dem vormals etwas nobleren Hotel an der Rue de Rivoli,
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