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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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brillanten bitteren Artikel über die Rolle der Privatgelehrten in den Universitäten: sie seien eigentlich »Emeriti vor Dienstantritt«.
    Man hört, die Englischsprachigen fliehen aus Tokyo, weil sie verstehen, was die ausländischen Kommentatoren sagen, während die einsprachigen Japaner, von Beschwichtigungsreden der Offiziellen hingehalten, ratlos in ihren Wohnungen ausharren.
16. März, Karlsruhe
    Fukushima – die Lektion vom Mitbetroffensein aus der Ferne. Das konkret Universelle emergiert im Desaster. Als Carl Schmitt schrieb: »Wer Menschheit sagt, will betrügen«, dachte er an die Phrasen einer Aufklärung, die suggestiv und manipulativ im abstrakten Universalismus schwelgt. Wir sagen jetzt »Menschheit« und meinen ein Volk, mit dem wir im System der synchronen Fern-Nachbarschaften real-imaginär verbunden sind. In dessen Not und Schrecken fühlen wir uns ein, als ob wir physisch gemeinsame Grenzen hätten.
    Medienmeldung: Es soll in Deutschland im Jahr 2010 circa 110000 legale und gemeldete Abtreibungen gegeben haben, davon nicht mehr als 3% aufgrund von medizinischer und kriminologischer Indikation. Der Umfang der Dunkelziffer wird auf200% geschätzt, wonach die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche bei 300000 gelegen haben dürfte. Das bedeutet bei 675000 Lebendgeburten im gleichen Zeitraum, daß jedes dritte werdende menschliche Leben an der Wand der Unwillkommenheit zerschellte.
    Nach dem Debakel von Tschernobyl schickten die sowjetischen Autoritäten Soldaten und Feuerwehrleute skrupellos und ohne Aufklärung an den Einsatzort, teilweise sogar ohne Schutzanzüge. Die Einsatzleute erfuhren die Wahrheit über ihre Mission, als ihre Haut nach ein paar Tagen Blasen trieb und die Muskeln nach einigen Wochen von den Knochen fielen. Die Japaner wählten in der Krise einen anderen modus operandi. Sie riefen die Hubschrauberbesatzungen zurück, als deutlich wurde, daß die Mannschaften nicht ohne Schädigung aus dem Strahlenfeld herauskommen konnten, in das die Maschinen hineingeflogen waren. Dennoch behielten alle Rettungsarbeiten auf dem verstrahlten Gelände Züge von Opferhandlungen. Bemerkenswerterweise fehlt es in Japan nicht an Menschen, die sich in Kenntnis der Gefahr ins tödliche Zentrum vorwagen.
    Nun spricht sogar der Tenno in hoher Not zu seinem Volk. Seine Worte bestätigen und widerlegen zugleich Karl Löwiths These: »Die Japaner können nicht reden.« Es trifft wohl zu, daß Japan eine Kultur ohne Agora ist. Wer hier die Wahrheit sagen will, muß zusehen, wie er sie zwischen stilisierten Sätzen unterbringt.
    Ob es dem Buddha übelzunehmen ist, daß er das Eingehen ins Nirvana nicht auch Paaren zugestand?
17. März, Ulm
    Roland Barthes hatte recht: die Sprache der Liebe kommt über eine Sammlung von Fragmenten nicht hinaus. Die ärmste Form der Sammlung ist die Reihe von Eigennamen, die zu früherenAmouren gehören. Aus den Namen werden Anekdoten, aus den Anekdoten Kapitel. Das geht so lange, bis der Name auftaucht, von dem man will, daß er nicht mehr bloß ein Kapitel bedeutet.
    Die erotische Autobiographie ist unmöglich.
    Nach geglückten Vorträgen redet es im Redner noch eine Weile weiter, als ob das Publikum im Saal geblieben wäre und auf Nachträge wartete.
    Da stand ich nach getaner Arbeit, der jüngste Neuzugang im Ulmer Streichelzoo, ein naher Verwandter der Chimäre, halb indischer Elefant, halb Zwergziege, und hörte Komplimente bis kurz vor Mitternacht.
18. März, Karlsruhe
    Vor Jahren schrieb ein konservativer Publizist: »Das Leben ist geschmacklos, es geht einfach weiter.« Man sollte besser sagen, der Mensch ist das Tier, das weitermacht. Die Moderne hat mit allen ihren Kataklysmen noch kein Ereignis hervorgebracht, das stark genug gewesen wäre, den Basistrend zur »Modernisierung« zu stoppen. Weder der Erste noch der Zweite Weltkrieg haben die Tendenz nennenswert beirrt, nicht der Holodomor, nicht der Holocaust, nicht Hiroshima, nicht der Hitlerismus, nicht der Stalinismus, nicht die Todesorgie des Großen Sprungs nach vorn, nicht Tschernobyl, nicht Fukushima. Es scheint, die Systeme der Moderne sind warnungsresistente Größen, mehr noch, sie verbrauchen Warnungen wie Nahrungsergänzungsmittel. Die entscheidende Frage ist, ob man von der Unbeirrbarkeit des Haupttrends auf seine zivilisatorische Wahrheit und menschliche Richtigkeit schließen darf.
19. März, Wien
    Neu im Vokabular: Abklingbecken, Prolonged Grief Disorder, Herzblitzableiter.
    Beim Blättern im Netz
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