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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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sie versprach, eine Seite eingeklebt, es würde ein halbes Regal füllen.
31. März, Wien
    Revolutionäre Kausalitäten: In Ägypten bleiben wegen der politischen Wirren die Touristen weg. Die Kamel-, Pferde- und Eselführer im Land wissen nicht mehr, wovon sie ihre Tiere ernähren sollen. Folglich appellieren sie an die ausgebliebenen Touristen, ob sie nicht helfen könnten, die hungrigen Geschöpfe durchzufüttern, bis sie, die Touristen, sich selbst wieder ins Land wagen.
    Stoße im Netz auf den Brief eines amerikanischen Anarchisten an Proudhon, in welchem dem Altmeister der Rebellion seine antifeministischen Eseleien vorgeworfen werden. Der Autor hält Proudhon entgegen, er wolle die »Baronie der Männlichkeit« auf dem Vasallendienst der Frau begründen – geschrieben zu New Orleans im Jahr 1857.
    Always look on the bright side of life. Die innere Verfassung von Kulturschaffenden hierzulande gleicht der von Mafiosi-Töchtern. Deren glückliches Bewußtsein ist darauf gegründet, von den Geschäften der Väter nichts zu verstehen. Selbst wenn sie eine Ahnung in sich trügen, sie würden sich hüten, ihr auf den Grund zu gehen.
    Den Kantschen Traktat Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft nach langen Jahren wieder gelesen. Anfangs respektvoll angeregt, dann zunehmend erheitert, zuletzt befremdet von dem Biedersinn des Verfassers, der auch einen abgründigen Gegenstand wie die vorgebliche fundamentale Bosheit des Menschen im Ton eines altklugen Kindes abhandelt, das alles, was es in Menschenfragen weiß, aus unsortierten Lektüren zusammengetragen hat. Bemerkenswert ist, daß Kant sogar in einer Grenzfrage wie der, ob der Mensch letztlich gut oder böse sei, nicht einmal den Versuch andeutet, zugunsten seiner eigenen dunklen Option zu argumentieren. Er dogmatisiert wie ein bürgerlicher Bischof, der vor der eingeschüchterten Gemeinde einzelne Glaubensartikel aus einem pessimistischen Katechismus der Menschenkunde auslegt. Der Mensch ist zugeneigt dem radikal Bösen – »Was ist das?«
3. April, Berlin
    Mit der Sendung »Sturm der Geschichte – Warum uns Revolutionen überraschen«, zu der Juli Zeh und Daniel Cohn-Bendit auf dem Podium sind, startet das Philosophische Quartett ins zehnte Jahr, von nun an aus dem 14. Stock des Interconti in Berlin.
5. April, Burg im Spreewald
    Ruhiger Morgen in der komfortablen Idylle. Die Arbeit am Libretto der Babylon-Oper macht Fortschritte. Ich beschließe, die »Nachtmusik für hängende Gärten«, in der sich ein Volk von Klarinetten zu einem ahnungsvollen Murmeln erhebt, als Intermezzo anzulegen, das in die Mitte des Stücks zu plazieren wäre. Ein unsichtbarer Chor singt den Vers von Hosea: »Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer.« Somnambulisch tritt danndie »Seele« auf und erklärt in einem entrückten Selbstgespräch, wieso die Sterne weder leuchtende Körper sind noch selige Götter. Sie sind Löcher im Mantel der Nacht, durch die das Licht der Überwelt in das von uns bewohnte Dunkel einstrahlt.
6. April, Berlin
    Abends kommt es endlich zu der seit Wochen vorbereiteten Freiheitsrede in der Allianz-Vertretung am Pariser Platz vor einem überbordenden Publikum, von dem man hätte glauben können, das ganze politische Berlin sei da, ein gut Teil des kulturellen dazu. Unter dem Titel Streß und Freiheit entrollte sich eine Konzertrede von gut anderthalb Stunden Länge, ohne daß bei den Zuhörern ein Nachlassen der Aufmerksamkeit zu bemerken gewesen wäre – wobei die beiden Exkurse zu Rousseaus Fünftem Spaziergang und Becketts Eleutheria mit erhöhter Spannung verfolgt wurden.
    Sprunghaftes Leben, von Hotel zu Hotel, bis man den Ortswechsel nur noch an den verschiedenen Farben der Marmorbäder festmacht.
8. April, Karlsruhe
    Ein Fernsehfeature klärt darüber auf, wieso im mexikanischen Drogensystem große Dealer zu Volkshelden werden. Jeder könnte auf jeden schießen, folglich blüht die Industrie der Automobilnachrüstung für exponierte Bosse wie nie zuvor. Unauffällig werden gewöhnliche Limousinen zu Kriegsfahrzeugen umgestaltet. Das ganze Land scheint in den Händen der Drogenhändler zu sein, die Regierungen operieren nahezu unverhüllt als Agenturen der Narko-Industrie. Stark entwickelt ist die Auftragsmord-Szene: Für 60 Dollar, heißt es, kann man einen unliebsamen Zeitgenossen auslöschen lassen – was auf europäische Verhältnisse umgerechnet hieße, man könnte für den Gegenwert eines größeren Abendessens fünf
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