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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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zugrunde gegangen.«
    Ob Sartre den Satz im Ohr hatte, als er L’être et le néant in der Sentenz enden ließ, der Mensch sei eine nutzlose Leidenschaft? Doch selbst bei ihm, dem letzten Champion des Freiheitsdenkens, blieb der Inutilitarismus Episode. Kaum daß er den Satz von der passion inutile hingeschrieben hatte, machte er kehrt und suchte sich eine Position auf dem Stellenmarkt der Weltverbesserung.
    Erlesen klein bleibt das Verwandtschaftssystem derer, die andem makellos negativen Begriff von Freiheit festhalten. Die vielen folgen dem Ruf einer vorgeblichen positiven Freiheit, als ob diese nichts andere wäre als eine unbehinderte Besessenheit.
17. April, Amsterdam Leyden
    Bei schönstem Frühsommerlicht brechen wir vom Hausboot an der Meevenlaan aus zu einer Abschiedsradtour aufs Land nördlich von Amsterdam auf, Rene zum letzten Mal auf beiden Beinen, einem Weg am Meer entlang folgend, wo der steife Wind nervöse kleine Wellen erzeugt. Entenfamilien mit zahlreichen Jungen streben gegen die flirrende Strömung an.
    Der härtere Teil der Prüfung kam abends, als wir Rene nach der Feier mit Freunden auf dem Boot in die Universitätsklinik von Leyden begleiteten, wo morgen das Unvermeidliche getan werden soll. Du kennst das – man geht in ein Krankenhaus mit all der Gefaßtheit, zu der man sich überreden kann, und verläßt das Gebäude aufgeladen mit sämtlichen Agonien, die in den Räumen jemals stattgefunden haben.
18. April, Karlsruhe
    Somnambulisch zum Airport Schiphol, wo heute so ziemlich alles verabredet ist, was die Weltauswahl an Frühfliegerhäßlichkeit zu bieten hat. Ein Großteil der Maschine wurde von steinalten Japanerinnen okkupiert, die ihre tragischen Masken ins Morgenlicht hielten. Auf dem Weg zum Gate wiederholte die Frauenstimme narkotisch ihr Mantra »mind your step«, der Satz verfolgt mich bis nach Hause. Gern würde ich die Arme zum Himmel heben.
    Aus den Niederlanden am Nachmittag die Nachricht: Operation gelungen. Von jetzt an läuft die Stundenglaszeit. Wie groß istdoch der Unterschied zwischen dem Gedanken an die abstrakte Endlichkeit und dem realen Verlust des Ewigkeitsleichtsinns.
    Spät entdeckt man wesentliche Sätze. Lady Chatterlys Lover beginnt mit der großen Sentenz: »We’ve got to live no matter how matter skies have fallen.«
    Neben den nacht-aktiven sind die morgengrauen-aktiven Tiere zu fürchten. Der Geier findet ab vier Uhr morgens seine Mahlzeit auf dem zermürbten Liegenden.
19. April, Karlsruhe
    Was tun Diktatoren, um angesichts der heraufziehenden Krise an der Macht zu bleiben? Die Mißstände selbst benennen, Maßnahmen ankündigen, symbolische Gesten ausführen, Kritik dulden, und alles beim alten belassen. Sagte ich Diktatoren? Jeder brave Bürgermeister macht es so.
    Rene am Telefon, ganz er selbst. Er sagt, ein Traum sei wahr geworden, an einem Tag zehn Kilo abgenommen. Wir scherzen und treiben Unfug in der Leitung, als wollten wir einen Aufstand gegen die Gravitation anzetteln. Ihm hilft das Opium, ich greife die letzten Reserven an Übermut an.
20. April, Karlsruhe
    Rene sagt, das Thema Bein muß man als abgeschlossen ansehen.
    Abends in Ettlingen mit den Freunden im Freien unter den Bäumen wie im Hochsommer. Seltsam, wie der Kummer und die Aufheiterung nebeneinander bestehen können.
22. April, Karlsruhe
    R. schreibt, er gehe auf dem Flur der Klinik an Krücken geläufig auf und ab, als hätte er sich nie anders fortbewegt.
23.-29. April, Stanford Palo Alto
    Lese über dem Atlantik Voltaires kleinen Roman Die Prinzessin von Babylon von 1768. Der Ansatz des Erzählers ist alles andere als romantisch, wenn er auch den Helden seiner Geschichte in einer von sechs Einhörnern gezogenen Kutsche reisen läßt. Das Märchengenre kommt der philosophischen Satire entgegen. Bei einem Buch dieser Art kann man den Rat befolgen, irgendwo in der Mitte zu beginnen, da die Handlung hier wie anderswo zumeist für das unintelligente Element der Literatur steht.
    Hübsch ist die Rom-Satire, in der sich der Erzähler darüber mokiert, wie der Papst mit zwei Fingern die Stadt und den Erdkreis umfassen will und wie die vatikanischen Würdenträger den hübschen Jüngling Amazon unter che-bel-fanciullo-Rufen mit den Augen verzehren – bis er zuletzt die schwülen Herren in Violett zum Fenster hinauswirft. So schnell er kann, reist der Junge aus der seltsamen Stadt ab, wo man dem Papst die Füße küssen soll, »als ob er die Wange am Fuß hätte«.
    Frappierend, mit
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