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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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der Öffentlichkeit angeht, schlechterdings nichts mehr zu erwarten. Indem sie auf dem beharren, was sie für ihre Standards halten, tragen sie das Ihre dazu bei, daß es ihre Fächer in zwanzig Jahren nicht mehr geben wird.
1. Mai, Karlsruhe
    Von Raffaele Cortina Editore einige Belegexemplare der Philosophischen Temperamente , die in Italien Caratteri filosofici heißen.
    Abscheuliche Meldungen über Kriegshandlungen in Libyen; man sieht Aufständische, die in die Luft feuern und den Tod eines der Gaddafi-Söhne bejubeln. Gleichzeitig merkwürdig neutrale Bilder aus Rom von den Feierlichkeiten zur Seligsprechung Johannes Pauls II.
    Michel Houellebecq zitiert irgendwo eine Statistik, wonach sich Selbstmörder mit Vorliebe am Montag umbringen. Von sich selbst sagt er, was ihm die Welt noch attraktiv macht, seien Prostituierte und Hunde.
    Daß Franco Picassos Guernica in den fünfziger Jahren nach Spanien bringen lassen wollte.
    »Und wie zum Sandstrand/Welle eilt um Welle/So eilen hin zum Ende die Minuten. (Shakespeare, Sonnette, LX) »So do our minutes hasten to their end.«
    Noch einmal zu dem Begriff »republic of letters«, den ich bei meinem öffentlichen Vortrag wörtlich auf das Briefeschreiben unter Gelehrten zurückgeführt hatte – nicht zuletzt im Hinblick auf den sub-belletristischen e-mail-Verkehr auf dem postmodernen Campus. Sepp, der täglich eine starke Mail-athletische Trainingseinheit absolviert, leitet mir einen kurzen Brief von Gerhard Casper weiter, dem emeritierten Präsidenten von Stanford, der bei meiner Lesung über die Theorie der Verborgenheit am Donnerstag anwesend gewesen war. Sepp fügt hinzu, der minimalistische Kommentar Caspers über meine Präsentation (»sympathisch«) sei das Positivste, was in Jahrzehnten von ihm worüber auch immer zu hören gewesen sei. Doch nehme ich es mit Stirnrunzeln zur Kenntnis, wenn C. bemerkt, er ziehe Reemtsmas schlichte Schreibweise vor, mag er auch einschränkend ergänzen: vielleicht weil man gemeinsame hanseatische Wurzeln habe.
    Anfangs war die ganze Kultur ein epistolographischer Effekt. Wer von der republic of letters spricht, muß wissen, daß es damals buchstäblich um Postsachen ging. Alexander von Humboldt soll 50000 Briefe geschrieben und 100000 empfangen haben.
    »Frönen« (eigentlich: Herrendienst leisten) kann man in postfeudalen Sprachspielen nur noch den Dämonen, die in Tics umgekleidet wurden.
2. Mai, Frankfurt
    Fürs rechtsphilosophische Seminar: ob die Soldaten der Spezialeinheit, die Osama Bin Laden töteten, Helden der Nationsind oder Henker oder Mörder? So oder so, sie sind Agenten auf der Bühne der War-on-Terror-Rhetorik, die seit einem Jahrzehnt Phrasen wahr werden läßt. Gekrönt wurde die Aktion des US-Kommandos in Pakistan von der Entführung der Leiche im Helikopter, vorgeblich, um diese an unbekannter Stelle im Meer zu versenken. Ein guter Tag für den Rache-Instinkt, ein trüber Tag für die Zivilisation.
    Wenn man Bin Laden überfallen und seine Leiche entfernen konnte, hätte man ihn offensichtlich auch lebend entführen und vor Gericht stellen können – alles andere hieße, die zivilisatorische Funktion des Rechts zu mißachten. Das Kriegsrecht ist die Pest, durch die sich die Gewaltenthemmung im politischen Denken einnistet.
3.-6. Mai, Girona
    Für dieses Jahr wurde mir die jährlich ausgeschriebene Càtedra Ferrater Mora de Pensament Contemporani an der Universität von Girona angeboten – wenn es in der universitären Welt so etwas wie Angebote geben sollte, zu denen man nicht nein sagen kann, so wäre dies eins davon, vor allem, sobald man die Liste der Vorgänger durchmustert. Der Preis ist hoch: Die Stiftung erwartet vom Gast vier komplette Seminartage mit langen Sessions vormittags und nachmittags. Aufgrund meiner mangelnden Katalanischkenntnisse können diese Sitzungen nur in Englisch oder Französisch durchgeführt werden. Weil die Übertreibung ein ernsthaftes Geschäft ist, haben wir die Serie von Seminaren unter den Titel gestellt: »From Being and Time to Being and Space«. Nachdem seit wenigen Jahren eine komplette spanische Übersetzung der Sphären -Trilogie vorliegt, wird das Publikum bei der Lektüre-Arbeit mit Kopien hieraus versorgt, indes die Kommentare und Diskussionen auf der anderen Seite der Sprachbarriere stattfinden.
    Warum die netten Menschen deine schlimmsten Feinde sind: Zu schwach, um zu sagen, daß sie es nicht wissen, antworten die Leute auf der Straße hier, nach einer Adresse
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