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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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déluge«, sie soll damit den Zustand der Staatsfinanzen um 1750 kommentiert haben –, man sagt vielmehr: In uns die Sintflut, die nicht mehr vergeht.
    Nach der Flut stellt die von kosmischer Beängstigung heimgesuchte Seele nur die eine Frage: Wie bekomme ich eine gnädige Natur? Die naheliegende Antwort wird lauten, daß wir den Naturschrecken durch den Opferschrecken erwidern müssen. Sollten wir jemals Weltkinder gewesen sein, wir sind es nach allem, was unter dem Himmel geschehen ist, nicht mehr. Die kosmische Heimatlosigkeit reicht tiefer als die soziale Entfremdung. Wer also den Prototypus der allesdurchdringenden »Stimmung« sucht – er fände ihn in der mesopotamischen Sorge um das nachsintflutliche Dasein-Können in der Welt. Die Sorge gilt einem Himmel, der einst die Erde mit Meteoriten steinigte und die Menschen in schmutzigen Flüssen aus den Wolken ertränkte. Folgerichtig ist die babylonische Astrologie die Fortsetzung der Panik mit theoretischen Mitteln, während die griechische Himmelskunde sich als euphorische Ordnungsmeditation darstellt – als ob dort oben nie etwas gewesen wäre.
    Bedenkenswert scheint, daß Nietzsche zu seiner Zeit als einziger unter der griechischen Heiterkeit eine dunklere Strömung bemerkt hatte, die ihm verriet: Der Optimismus war selbst eine tendenziöse Stilisierung, um die nachwirkende Teilhabe des hellenischen Weltgefühls an der orientalischen Panik zu überdecken.
    Die aktuelle These lautet nun: Die Postmoderne bewegt sich auf eine neo-mesopotamische Grundstimmung zu, da sie mehr und mehr von den Folgen der geologischen Aufklärung durchdrungen wird. Von dieser werden wir darüber informiert, daß es letztlich nichts gibt, was uns bei noch so hoher Entwicklung der Technik vor den drei kosmischen Katastrophengewalten – den neptunischen, den vulkanischen, den meteorischen – endgültig in Sicherheit bringen könnte.
    Am Tag danach: Es treffen schöne Reaktionen von den Teilnehmern des Seminars ein – eine brasilianische Doktorandin lobt die sokratische Langsamkeit der Überlegungen, mit denen ich ins unbetretene Gelände vordrang. Mary Rorty, die vor Jahren die Menschenpark-Rede übersetzt hatte, merkt an, sie sei den Weg ins Unheimliche aufmerksam mitgegangen, sehe aber keinen Zusammenhang mit den Ausführungen von Sphären I , das sie zur Vorbereitung studiert hatte.
    Treffe im Faculty Club den jungen Germanisten Adrian Daub, der mir seine jüngst erschienene Studie über das vierhändige Klavierspiel im 19. Jahrhundert überreicht. Er hatte zuvor über die Metaphysik der Ehe im Deutschen Idealismus gearbeitet und will sich jetzt, wenn ich ihn richtig verstand, mit dem dynastischen Rest in den Gesellschaften der Moderne befassen – womit er der Frage nach der Bedeutung der Bastarde indirekt nahe kommt.
    Peter Hacks erwähnt in Ekbal , man kenne in Babylon zwei Arten von Bestrafung für unliebsame Dichter: die Strafe der Verbannung, auf die hoffen darf, wer mildernde Umstände zu seinen Gunsten ins Feld führen kann, und die Strafe der Erörterung, bei welcher der Delinquent, an eine Säule gefesselt, den Passanten bis zur völligen Zerrüttung Rede und Antwort stehen muß.
    Ach, diese herrlich verwirklichte akademische Utopie, wo niemand aufgrund seiner Hautfarbe oder seiner Aussprache diskriminiert werden darf.
    Was in mir nachklingt: das Gespräch mit Sepp Gumbrecht über die Rolle der public intellectuals in der BRD und in den USA angesichts der Krise der Geisteswissenschaften, die man in den anglophonen Ländern deutlicher wahrnimmt als auf dem europäischen Kontinent. Sepp geht an das Thema pragmatisch und erfolgsbewußt heran, immer mit einem Auge die Rankingtabellen beobachtend. Es ist ihm vollkommen ernst mit seiner Überzeugung, die Geisteswissenschaften könnten in einem alten Kulturland wie der Bundesrepublik binnen einer Generation verschwunden oder auf eine klägliche Restexistenz geschrumpft sein, wenn nicht Autoren unseres Typs ständig neue außerakademische Beweise für ihre Vitalität lieferten. Ihre Unentbehrlichkeit ist nicht mehr als eine autohypnotische Fiktion, mit der sich die Insider an den Universitäten selbst betrügen. Die Vorgänge in England zeigen klar genug: Die Stunde der Abschaffer hat geschlagen. Nun liege es an uns, den öffentlichen Geisteswissenschaftlern vom Dienst, coram publico zu zeigen, ob wir imstande sind, dagegenzuhalten. Von den Vertretern der akademischen Philosophie ist, was die Rechtfertigung ihres Fachs vor
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