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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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nehmen, daß Gaddafis Wahnsinn sich zu großen Anteilen aus europäischen Ideen speiste. Er gehört zu den Politikern der Rousseauschen Moderne, die die Idee der volonté générale als Kontraktion des Allgemeinen in einem Einzigen auslegten.
    Rousseau: »L’homme qui médite est un animal dépravé.« Man könnte nicht sagen, ob dieser Satz aus dem Sanskrit ins Französische übersetzt ist oder umgekehrt.
    Zu den herausragenden Merkmalen von Rousseaus Lebensweg gehört die Tatsache, daß er über Jahrzehnte hinweg der Empfänger größter Wohltaten seitens adliger Gönner und Schutzherren gewesen war – von Madame de Warens bis zu Madame d’Epinay, die ihn 1756 auf Schloß Montmorency empfing, und dem Herzog de Luxembourg, im Genuß von dessen Gastfreundschaft Rousseau die Neue Heloïse (1761) sowie den Contrat social (1762) und den Émile , im gleichen Jahr, verfaßte, um nur wenige unter seinen Förderern zu nennen. Sein Talent zur Undankbarkeit ging über jedes normale Maß hinaus. Ja, der bloße Gedanke, der Vornehmheit eines begüterten Mitmenschen Dank zu schulden, empörte ihn bis zur Raserei. Man darf sich fragen, ob nicht sogar sein Verfolgungswahn nur eine Maske war, unter der sich das Bedürfnis nach Rache an all denen verbarg, die es gewagt hatten, ihm Wohltaten zu erweisen. Er sah sich selbst als den Wohltäter aller Wohltäter, als ein unermeßlich wertvolles Geschenk an die Menschheit, und er konnte es nicht dulden, daß einzelne Adlige sich erfrecht hatten, seinen Geschenken an die Welt durch ihre Geschenke an ihn zuvorzukommen.
    Was Rousseaus Wirkungen auf den Feldern der Politik, der Literatur und der Pädagogik angeht, ist das meiste mehr oder weniger endgültig gesagt. Auch seine verheerenden Erfolge auf dem Gebiet der modernen Sentimentalität sind umfangreich dokumentiert. Der einzige nicht unwesentliche Nachtrag könnte in der Anmerkung bestehen, daß Rousseau eine Schlüsselfigur beim Übergang der mittelalterlichen Weltflucht in modernes Einzelgängertum darstellte. Der promeneur solitaire von Paris ist kein direkter Nachkomme Petrarcas, der zwischen 1346 und 1356 seine Schrift de vita solitaria verfaßte: Denn während der Einsiedler in der Vaucluse eine kühne frühbürgerliche, nicht-klösterliche Variante des otium religiosum formulierte, bot der späte Rousseau das Schauspiel eines altersverwahrlosten Ex-Prominenten, der wie ein unappetitlicher Stadtstreicher seinen Bastardhaß gegen die bequem gebetteten Legitimen auf einsamen Spaziergängen hinausschrie.
    Wenn Voltaire alles in allem als kein großer Geist erscheint, so weil er keine zwingende Übertreibung schaffen konnte, im Gegensatz zu Rousseau, der, wie Voltaire gut begriff, immer übertrieb und darin groß und entsetzlich war.
23. März, Wien
    Hegels Weltgeist erzählt sich einen Witz – sein letztes Wort ist unvermeidlich: »Ach so!«
    Der Geist tut so, als hätte er sich vor sich selbst in der Äußerlichkeit versteckt und sich am Ende doch gefangen.
    Liz Taylor gestorben. Noch eine Endstation einer entzauberten Anbetung.
26. März, Wien
    Schwierige Zeiten, wenn man als geübter Wähler des kleineren Übels nicht so recht weiß, wo es für diesmal zu verorten wäre.
    In Baden-Württemberg steht am Ende des Wahlabends die große kleine Umwälzung fest: Nach einem halben Jahrhundert schwarzer Regierungen nun die grün-rote Alternative.
28. März, Wels
    Man sagt »Libyen« und meint, ohne nachzudenken, man rede von einem Nationalstaat üblichen Formats. In Wahrheit, gibt ein amerikanischer Kommentator zu bedenken, handelt es sich bei diesem improvisierten Land um ein Konglomerat von Stämmen unter einer Staatsflagge – tribes under a flag. Das Bonmot trifft auf zwei Drittel der politischen Gebilde zu, die heute in den United Nations vertreten sind. Was man Nationen nennt, sind zum großen Teil Staaten ohne Staatsbürger, improvisierte Synthesen heterogener Populationen im Sendebereich eines mehr oder weniger zentralisierten Staatsrundfunks. Du hast eine Hauptstadt, du hast Medien, du hast eine Armee, jetzt suche dir das dazugehörige Volk.
29. März, Wien
    Man muß den Islam so lange mit der Frage, ob er zur westlichen Kultur gehört, nerven, bis seine Vertreter platzen und zugeben, schon die Alten von Medina hätten nie etwas anderes als Freiheit, Bildung, Wohlstand und Demokratie gewollt.
    Ich hätte vor 30 Jahren ein Album anlegen sollen: Enttäuschende Schriftsteller. Hätte ich nach jeder Lektüre, die nicht hielt, was
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