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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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und mehr von der Verfolgung durch den Gläubiger und spricht den sozialen Versager von eigener Schuld frei. Mehr noch, das Leiden-Machen als Vergeltung für unreturnierte Schulden wird verpönt, der Bankrotteur kommt schmerzlos davon, ein Leidensausgleich findet nicht mehr statt. Wenn es der Staat ist, der sich bis zum Bankrott überschuldet, heißt es sogar, nicht der Schuldner, der Gläubiger ist schuldig.
12. März, Wien
    Vom Schweigen – ein Delirium. Ein Mensch, der willentlich über etwas Wichtiges schweigt, sei es ein Verbrechen, eine Liebe, ein geheimes Wissen, das die Dinge in einem anderen Licht erscheinen ließe, bildet einen dunklen Fleck in der Welt, einen dunklen, wohlgemerkt, nicht einen blinden. Sagte man früher von einem Menschen, »er nahm sein Geheimnis mit ins Grab«, so implizierte das, wenn man es recht bedenkt: Er übte gegenüber seiner Mitwelt das Vorrecht Gottes aus, da er eigenmächtig über den Unterschied zwischen Offenbarung und Verhüllung verfügte.
    Nun wendet man ein, daß Menschen nur gestehen können, nicht offenbaren. Wer hat gesagt, es sei bei Göttern anders? Vielleicht kann auch Gott nicht offenbaren, nur gestehen, zum Beispiel seine Schwäche für den Menschen.
    Das Elend der Religion versteckt sich im Begriff der Offenbarung. Daß der Mensch hin und wieder eine Schwäche für die Sache mit Gott hat, braucht nicht umständlich demonstriert zu werden. Sollte sich aber Gott die Sache mit dem Menschen zu Herzen gehen lassen, machen die Theologen ein großes Tamtam und rufen, Achtung!, es weihnachtet sehr, der Herr kommt uns entgegen. Der große Einsame im Himmel, der Unerreichbare hinter den Wolken, der schizoide König, der niemals zittert – mit einem Mal ist er leutselig geworden. Er sendet einen Boten voraus, um zu testen, ob mit den Menschen, die er voreilig für verstocktes und überschuldetes Gesindel hielt, nicht doch noch etwas zu machen sei.
    Zuletzt mischt er sich selbst unters Volk. Der Schöpfer gibt sich menschlich und plaudert mit der Frau an der Kasse. Diesen Schritt priesen die Priester als Offenbarung. Indes sollte klar sein, daß Gott nichts zu offenbaren hat, er hat etwas zu gestehen. Er ist seiner Überlegenheit überdrüssig, er speit auf seine entrückte Seligkeit, er möchte mit den Kumpeln am Tresen stehen, er will wissen, was seine Frau treibt, während er sich im Smalltalk mit den Cherubim langweilt, er will an der Schulter eines Menschen weinen, der an ihn glaubt.
    Das alles sei zugestanden, was folgt daraus? Ist der Herr dadurch wirklich einer von uns geworden? Hat Shiva demissioniert, nur weil er eine Lustträne in Shaktis Spalte fallen ließ? Kann der Chef hingehen und sagen, macht euren Mist alleine? Auch das Gestehen stößt an innere Grenzen. Irgendwann hältst du die Klappe, solltest du auch am Kreuz etwas unbequem hängen.
14. März, Wien
    Das eigene Gehirn ist wie das Zentralkomitee einer Partei, die zu lange an der Macht war.
15. März, Wien
    Der e-mail-Ordner schwirrt vor Anfragen für Statements zur Nuklearkrise in Japan. Man möchte auf der Stelle Erklärendes über das weltweit aktive Unruhethema hören, die Medien können und wollen nicht warten. Aber man soll nicht philosophieren, solange die Toten nicht bestattet sind. Zwar ließe sich heute schon Triftiges über die Katastrophe sagen, aber wenn Rhetorik die Kunstlehre von der Passung zwischen Rede und Lage ist, wäre es ein Kunstfehler, jetzt so zu sprechen, als ob der Schrecken und die Trauer bereits abgeklungen wären.
    Diesen Fehler hatte Susan Sontag im September 2001 begangen, als sie viel zu früh, während die Trümmer des World Trade Centers noch rauchten, in einem Artikel des New Yorker darauf insistierte, die Attentäter, deren Tat man mechanisch als »feigen Anschlag« qualifizierte, seien mit Sicherheit keine Feiglinge, indes das Wort »feige« eher zum Verhalten der amerikanischen Piloten passe, die auch zu jener Zeit aus großer Höhe, außerhalb der Reichweite von Vergeltungsschlägen, fortwährend Ziele im Irakbombardierten. Dies hieß an der Erschütterung des Publikums vorbeireden, und obschon Susan Sontag in der Sache recht hatte, gab ihr die Situation unrecht.
    Vielleicht haben Michael Naumann und ich diesen Fehler wiederholt, als wir im aktuellen Cicero verfrüht über die zivilisationstheoretischen Implikationen des Unfalls von Fukushima spekulierten – nachzulesen unter dem etwas überhöhten Titel Das Ende des nuklearen Feuers .
    Magnus Klaue in einem
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