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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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umgekehrt: All die äußeren Termine können nur stattfinden, weil der verschwundene Autor sich zu viel Zeit nimmt und mir unerbetenen Raum für Allotria gewährt.
    Hin und wieder kommen Erinnerungsbilder aus den letzten Tagen zurück – etwa von den Kolonnaden an der Rue de Rivoli vor dem St. James & Albany, als habe dort etwas in der Luft gelegen, was im nachhinein wie ein Versprechen wirkt oder wie ein Anlaß zurückzukehren.
    Niemand scheint sich heute an die Anfänge der Moderne zu erinnern, als die entscheidende Richtung des Fortschritts als Verringerung, Reduktion, Minimierung, Formalisierung bestimmt wurde; es war die große Zeit der logischen Österreicher. Damals ging es um eine reformatio mundi im antihabsburgischen Stil. Auch das Bauhaus von Weimar ging auf solche Ziele zu: Die Welt wird besser, indem wir weniger von allem machen, und das Wenige klar, deutlich und quintessentiell. Kurz darauf kamen die Leute von der Pumpstation an die Macht, die Fortschritt nurals Mehr denken konnten: mehr Lärm, mehr Masse, mehr Hybride.
31. Mai, Wolfsburg
    Nach dem Gewitter am Vormittag wähle ich den früheren Zug, um schon gegen vier in Wolfsburg zu sein. Diesmal werfen die vielen Termine der kommenden Tage – das Quartett mit Messner und Geipel, der Abstecher nach Amsterdam, wo ich Rene während seiner Chemotherapie besuchen will, der Zwischenhalt in Berlin usw. – keinen Unruheschatten voraus, sie sehen aus wie Etappen, die sich mit ad-hoc-Energien bewältigen lassen, vorausgesetzt, die physischen Beschwerden werden nicht zu lästig.
    Allmählich stellt sich die Grundthese für das lange dritte Kapitel des Übungsbuchs etwas deutlicher dar: Die Moderne sucht – meist unter dem Vorwand des Handelns – nach Verfahren zur Aneignung der existentiellen Passivität. Deswegen kommt der seit dem 14. Jahrhundert florierenden Mystik in den Städten eine so große Bedeutung zu. Mystik hat nichts mit Selbstauslöschung zu tun, wie die Leser von Büchern aus dem Diederichs Verlag glauben. Sie ist die Könnensform des leidenden Lebens, also die Übungsform der Passion. Der mittelalterliche Passionsort war das Kloster – die frühe Neuzeit führt das Leiden in die Werkstätten und an die Arbeitsplätze. Passion und Kompetenz werden eins. Das ist die Religion der Städte, aus der die Reformation hervorging. Simul iustus et peccator, das heißt auch: gleichzeitig Mystiker und Handwerker, zugleich Christenmensch und Unternehmer.
    Damals wurde auch der moderne Schüler erfunden: das Kind als Mönch mit dem Schulranzen. Seit Neuzeit Schulzeit für alle bedeutet, ist die Passionspflicht in Form von allgemeiner Schulpflicht eingerichtet. Ein Rest von der demokratisch-mystischen Idee, die Passion für alle anzubieten, versteckt sich in der deutschen Bildungsvorstellung. Goethe: »Der nicht geschundeneMensch wird nicht erzogen.« Lenin war der perverse Erbe des neuzeitlichen Bildungsgedankens, als er aus der allgemeinen Nachahmung des Herrn den Terror für alle machte. Wie der gewöhnliche Christ eine Vorstufe zum Mystiker war, so der Genosse eine Vorstufe zum Kommunisten.
    Daß der Mensch etwas ist, was überwunden werden muß, das ist keine wirre Idee von Nietzsche und Trotzki, ganz Europa ist seit dem mystischen 14. Jahrhundert ein Trainingslager zur Menschenüberwindung mit Hilfe von Mystik, Kunst und Pädagogik. Aber fast ebenso lange ist auch die Konterrevolution der Spießer im Gang, mit ihren Fasnachtsspielen, ihren Genrebildern, ihrem Glück im stillen Winkel und ihren Pauschalreisen.
    Charles Péguy, zitiert von Mona Ozouf: »Wir können nicht oft genug wiederholen, daß die Angst, nicht genügend fortschrittlich zu erscheinen, aus den Franzosen Dummköpfe macht.«
    Bei der Lektüre von Reinhold Messners autobiographischen Gesprächen lernt man, wie ein klassischer Kontraphobiker empfindet. Er läßt sich von seiner Angst sagen, was er zu tun hat, um sie in Schach zu halten – das führt geradewegs in die Extremsituationen. Da er an den Gefahren wächst, wird er ein erfolgreicher Therapeut in eigener Sache. Der sehr hohe Berg scheint für ihn der Inbegriff des gerade noch besiegbaren Widerstands zu sein. Daher verabscheut er den billigen Höhentourismus. Zum Gipfel soll nur kommen, wer eine innerlich notwendige Verabredung mit dem Äußersten hat. Am meisten berührt mich, was Messner über seine Nachtängste sagt. In diesen furchtbaren Ekstasen am Berg, verlassen, dunkel, eisig, aussichtslos, kommt es nur noch darauf an,
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