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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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voll von criminal intent. Soll dieser politisiert werden – das scheint Rancières Forderung zu sein, der an der Romantik des Ungesagten festhält in der Annahme, es solle irgendwann laut und revolutionär gesagt werden –, oder ist es besser, ihm Gelegenheiten zu bieten, sich massenkulturell abzureagieren? Was war das 20. Jahrhundert anderes als eine Versuchsanordnung über diese Alternative? Der Sieg der Massenkultur über die revolutionäre Gewalt enthält die bislang klarste Aussage zur Entscheidung, die auf diesem Feld zu treffen war.
    Jetzt Stillschweigen bewahren über das Niveau der Küche in diesem Haus; lieber vom makellosen Grün des Rasens reden und von den überschwenglichen Rhododendronblüten.
    Die englische Presse witzelt matt über das »Roman« Empire – das Reich des russischen Oligarchen. Einer der jüngeren Kollegen am Ort, Charles Turner, Sozialphilosoph, der meinen Wittgenstein-Vortrag übersetzt hatte, wünscht beim Champions-League-Finale in Moskau die Niederlage von Chelsea, weil er diese Nouveau-Riche-Mannschaft (sein Ausdruck) nicht ausstehen kann.
22. Mai, Warwick University
    Die Vorlesung am Mittwoch – die Annual Lecture des Social Theory Centre – wurde gut aufgenommen, manche Hörer freuten sich offensichtlich, etwas über Wittgenstein in einem anderen Ton als hierzulande üblich zu vernehmen.
    Der lange Donnerstag brachte acht oder neun Referate von britischen und amerikanischen Wissenschaftlern über Aspekte meiner Arbeit (z.B. Sloterdijk & Nietzsche, Philosophie als Literatur, Was ist Sphärologie? usw.). Wenn ich geglaubt hatte, dies würde für mich eine eher angenehme Übung in passiver Beiwohnung bei einem akademischen Ritual, sollte sich bald zeigen, daß das Gegenteil der Fall war. Das Ganze lief für mich darauf hinaus, ein doppeltes Pensum im Laufschritt bergauf zu schleppen, die Arbeit des genauen Zuhörens, schwierig genug, und die des Antwortens auf alle Präsentationen, den ganzen Tag lang, bis mir die englischen Sätze im Mund zerfielen. Manchmal ergab sich Gelegenheit, philosophische Reflexion in situ zu erleben, aus energetischer Sicht war es jedoch ein fürchterlicher Aderlaß. Von einigen Teilnehmern wie Ibrahim Kristal (Kalifornien) und Nigel Thrift (Vice-President von Warwick) kamen präzise Rückmeldungen – auch von dem polyglotten Ivan Soll, dem Nietzschespezialisten aus Madison, Wisconsin, der auf die Frage, wie viele Sprachen er denn spreche, antwortet: Ich kämpfe mit neun Sprachen, wirklich sprechen tue ich keine. Ich fand diese Replik tröstlich, da ich meine Kämpfe mit dem Englischen nach einigen Runden respektabler Gegenwehr am Ende durch technischen K.o. verlor.
24. Mai, Karlsruhe
    Tony Judt gießt Öl ins Feuer, wenn er die israelische Politik seit 1967 als Ausdruck einer Adoleszenz-Neurose beschreibt: bewaffnet mit Bibel und Landkarte, schwärmt das Land von seiner uniqueness; es ist überzeugt: niemand versteht es; stets geht es davon aus, daß alle gegen Israel sind; es ist leicht beleidigt, führt ständig Gegenbeleidigungen im Munde und glaubt fest daran, es könne ohne Sanktionen tun, was es will – denn da es unsterblich ist, steht es über Kritik und Gesetz.
    Irgendwo in einer Zeitung: Kritisches über den venezolanischen Petro-Sozialismus. Die Ölmilliarden fließen in einen machistischen Traum, von Staatschef Chavez inkarniert, der vormals die Armen des Landes mobilisiert hatte, ohne sich je ernsthaft zu bemühen, für seine Anhänger sinnvolle Erwerbsstrukturen zu schaffen. Das Öl erlaubt einen Klientelismus von links, Volksbestechung als Sozialismus-Surrogat. Das rechte Gegenstück hierzu bieten die Petrodiktaturen der Saudis und der nordafrikanischen Staaten. Von denen wird man eines Tages erfahren, daß sie die nichtsnutzigsten Zuhältersysteme der Geschichte waren.
    Bei Vilém Flusser finde ich die schöne Notiz: Die Alteuropäer hätten weder Götter noch Staaten gehabt, sondern Amulette und Dörfer (Brief an Alex Bloch, S. 140). Dort steht auch Trauriges über den posthistorischen Verfall Englands und die Pracht der britischen Landschaften.
    Schon im März 1981 nennt Flusser den Neo-Konservativen Podhoretz ein Symptom dafür, daß jetzt auch die jüdischen Intellektuellen in den USA faschistoid würden! Was man aus seinen Briefen an Bloch lernt, ist das Ausmaß, in dem das Leben des Autors seit seiner Rückkehr nach Europa auf Essayisten-Misere beruhte, kompensiert durch eine innere Unruhe, die sich in Reiselust übersetzte.
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