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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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Kaum ein Brief, in dem nicht von Konferenzen, von stetigen Orts- und Themenwechseln und vom Herumspringen im europäischen Tagungszirkus die Rede wäre.
    Sehr bezeichnend für das Elend dieser Generation ist der jähe Bruch zwischen Flusser und Bloch nach 40jähriger Freundschaft. Beide trugen die Prägung durch den NS-Horror in sichund entwickelten in allem Diesbezüglichen eine bleibende Überhellhörigkeit. So ist es psychologisch nicht ganz unverständlich, wenn zuletzt die habitualisierte Faschismuswitterung in ihre Beziehung eindrang. Eines Tages wirft Bloch seinem Freund Flusser gewisse Affinitäten zum Nationalsozialismus vor, worauf dieser seinen Gast nur noch vor die Tür setzen kann. Man muß den Vorgang unter der Rubrik Exilantenwahn abspeichern. In dieser Abteilung des Archivs inventarisiert man die kleinen Katastrophen, die auf die große folgten.
    Flusser berichtet: Wenn er, von Prag kommend, seinen deutschen Freunden erklärte, wie sehr er bei der Rückkehr in den Westen aufatmete, wurde er von ihnen der »Reaktion« bezichtigt: Damals schrieben wir das Jahr 1986. Dieselben Leute, die seinerzeit Flusser Vorwürfe machten, weil er die Zustände in Prag nicht vorbildlich fand, schlurfen noch heute, nahe an der Pension, durch die deutschen Hochschulkorridore und träumen von einer neuen Linken.
25. Mai, Karlsruhe
    Vom Schweizer Tierschutz lernen: Dort dürfen künftig »gesellige Tiere« nicht mehr allein gehalten werden.
    Heilige Anatomie: Das Herz Ludwigs IX. blieb auf Verlangen des Kreuzfahrerheeres 1270 in Nordafrika, wo es verschollen ist; die Eingeweide gelangten in die Kathedrale von Palermo; die Gebeine erreichten im Mai 1271 Paris, wo sie in der Königsabtei von St. Denis bestattet wurden. In der Kanonisationsbulle von Papst Bonifaz VIII. für Saint Louis aus dem Jahr 1297 taucht das Wort superhomo im nachantiken Europa zum ersten Mal auf – der Übermensch ist der in Teile zerlegte Kreuzfahrer-Monarch. In jedem seiner Teile ist die ganze Substanz gegenwärtig – so will es die rechtgläubige Lehre von der Reliquie.
    Auf der Rundfahrt an den Rhein komme ich bei Rappenwört an einer Pferde-Messe unter offenem Himmel vorbei, wo schöne Tiere, Sportzubehör und Horse-Care-Artikel ausgestellt werden. An einem Stand las man: »Gebrauchte Hindernisse«. Sollte ich jemals Memoiren schreiben, dachte ich, werden sie so heißen.
26. Mai, Karlsruhe
    Der Sommer kommt früh und heftig. Sofort sind auch die Anzeichen der altbekannten Vor-Geburtstags- und Hochsommernervenkrisen da.
    Überall Tagungen, Konferenzen, Seminare. Der hilflose gute Wille lädt gern an langen Wochenenden auf die unzähligen umgewidmeten Schlösser und Klöster ein. Kein Tagungshotel im Land ist vor der Anreise der Fortbildungswilligen sicher. Überall referieren die Beratergockel vor dem besorgten Publikum und geben Anweisungen zum Umdenken. Sie laufen mit so hoch erhobenem Kopf durch die Gegend, als hätte jeder von ihnen den Club of Rome gegründet.
    Lese für das nächste Philosophische Quartett das Buch von Ines Geipel, der ehemaligen DDR-Sprinterin: No limit! über den heute restlos vom Doping durchseuchten Sport. In diesen Tagen, meint sie, wird die Schwelle zum Gen-Doping überschritten, gegen das die Fahnder auf lange Zeit keine Mittel haben werden. Daneben Reinhold Messners Buch: Leben am Limit . Was er berichtet, kommt mir bekannt vor, ich hätte nur nie in die Arktis oder auf die Berge gehen müssen, um an die Grenzen zu gelangen. Extremist war ich auf meine Weise, unsichtbar, von innen und nur selten freiwillig.
    Zum sogenannten Spiegelstadium: Depression ersetzt Repression. Seit die Leute wissen, wie sie aussehen, und sie wissen esnoch nicht seit langem, werden Maßnahmen zur Eindämmung des Übermuts fast überflüssig. 2000 Jahre lang haben die Priester gegen die superbia gekämpft. Mit allen Mitteln haben sie versucht, in die Seele der Menschen hineinzuregieren – doch jetzt, nachdem alle sich im Spiegel gesehen haben, ist das nicht mehr nötig. Ein Über-Ich braucht es nicht mehr, sobald der Beobachter vom frühen Morgen an durch seinen Spiegel über seine Durchschnittlichkeit informiert wird.
27. Mai, Karlsruhe
    Die Arbeit an Du mußt dein Leben ändern stagniert noch immer, aber nicht wegen der vielen Reisen und der äußeren Termine. Die Wahrheit ist, die Autorstimme will sich nicht zurückmelden. Im Grunde sind diese Tage eine Wartezeit, bis es mit dem unterbrochenen Buch vorangeht. Die Dinge liegen ja
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