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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage
Autoren: Peter Sloterdijk
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indisch-germanischen Weltbrandmotivik.
    Am Ende mußte Kant die Kosten für die Ausflüge in die Exzeßgeschichte tragen. In seiner Naivität hatte er geglaubt, man könne die religiösen Traditionen einfach sortieren – den Wahn ausscheiden und die Moral behalten. Der Meister von Königsberg hatte kein Organ für das Dritte, das sich in den sogenannten Religionen versteckte, den Überwirklichkeitselan, den Eros des Unmöglichen. Um mit dieser Dimension in Berührung zu kommen, hätte es für ihn genügt, einmal im Leben in eine Galerie zu gehen, in der die Meister der Renaissance zu sehen waren. Auch ein einziger Besuch in der Oper hätte bei ihm Wunder bewirken können. Kant zog es vor, es mit der wirklichen Kunst gar nicht erst zu versuchen. Er schrieb bedeutend über sie, ohne sie zu kennen.
    Die großen Maler und Komponisten der Neuzeit hatten Visionen aus einem ganz anderen Jenseits vor Augen als der GeisterseherSwedenborg, gegen den sich Kant in seiner etwas mickrigen Abwehrschrift verwahrt hatte. Der mittelalterliche Ausgangspunkt für die Kunst war das Wunder, ihr modernes Ziel sollte das Wunderbare sein. Die ganze Kunstgeschichte steckt in dem Satz: Wo miraculum war, soll mirabile werden.
    Paul Valéry: Ein Stück Musik ist ein Scheck, der auf die Talente künftiger Musiker ausgestellt wird.
    »Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern loswerden möchte.« (Goethe, Sämtliche Werke , Artemis Ausgabe, Band 9, S. 551)
13. Juni, Wien
    Nachtrag zu den Begriffen Fatum, Moira, Schicksal, Verhängnis: Sie deuten schon bei den Alten auf höherstufige, scheinbar gesetzmäßige Abläufe hin, gegen welche selbst Götter machtlos sind. Das allgemeine Verhängnis macht, daß das Weltall am Ende im Feuerbrand untergeht.
    Warum eigentlich? Solche Ausdrücke sind Grenzbegriffe, ohne reellen kognitiven Gehalt. Wie es kein Gesetz des Gesetzes gibt, so auch kein Schicksal des Schicksals. Jedes Verhängnis nimmt einen nur ihm allein zugehörigen Verlauf. Auch kündigt sich jede Katastrophe auf ihre eigene vertrackte Weise an, wobei die Vorzeichen nie in einem sinnvollen Verhältnis zum Umfang des kommenden Unheils stehen. Die Warnzeichen werden meistens erst nachträglich deutbar. Was man den Knoten des Schicksals nennt, meint die multifaktorielle Machart der großen Unglücke und Verfallsgeschichten. Ein Unglücksgrund kommt selten allein, und ein einzelner Faktor kann Schaden nur stiften, wenn er mit anderen kooperiert.
    Im Oberseminar kommt die Debatte auf Otto Röslers Überlegungen zu den Risiken der CERN-Experimente, die 2009 beginnen sollen. Rösler führt aus, es sei nicht mit absoluter Gewißheit auszuschließen, daß sich bei den Teilchenkollisionen in dem Large Hadron Collider ein winziges Schwarzes Loch bildet, das nicht sofort (wie man allgemein erwartet) zerstrahlt, sondern sich irgendwie stabilisiert. Träte das ein, so würde es die typischen Eigenschaften eines solchen Objekts entwickeln, nämlich alle Materie um sich herum aufzufressen. Die Vorstellung ist in ihren Konsequenzen furchterregend, obschon die Idee eines Weltuntergangs durch physikalische Grundlagenforschung auch etwas Erhabenes besitzt. Das Schwarze Loch made in Swizzerland würde aufgrund seiner noch sehr kleinen, aber schon überdichten Masse im freien Fall zum Erdmittelpunkt hinuntersausen und von dort aus sein Werk verrichten – zur Enttäuschung derer, die meinten, aus Gründen der Fairness müßten Genf und Umgebung zuerst eingesaugt werden. Die Implosion beträfe alle Orte an der Peripherie des Planeten gleichzeitig und symmetrisch. Die Materie der Erde würde gerade mal ausreichen, um auf eine Kugel von der Größe einer Honigmelone zu schrumpfen.
    Im Zusammenhang mit diesen Visionen tauchte unter den Teilnehmern des Seminars die Frage auf, ob es ein bürgerliches Widerstandsrecht in bezug auf Risiken von Forschung gibt. Wer den Eigenwillen des Wissenschaftsbetriebs kennt, wird an ein solches Recht nicht glauben, geschweige denn an seine Umsetzung. Wie sollte das geschehen? Können Bürger gegen Elementarteilchen auf die Straße gehen?
    Schlechte Nachrichten von der Europa-Front: Die Iren haben beim Referendum über den Lissabon-Vertrag mit Nein votiert wie vor ihnen schon die Franzosen und die Holländer. Da sieht man einmal mehr, wie sehr die Völker auf der Baustelle Europa stören … Man möchte meinen, im irischen Nein komme ein verblüffender Zusatz an Undankbarkeit zum Tragen,
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