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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht
Autoren: Charles Lewinsky
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endlich gnädig drannahm, war es fast zwölf.»
    «Das geht nicht nur dir so.»
    «Noch einmal lass ich mir das nicht gefallen», sagte der König. «Nun erzähl schon.»
    «Wie du willst. Als der junge Mann wieder einmal aus einem Gebäude kam und ganz automatisch nach links und nach rechts schaute, da war die Straße nicht so leer, wie sie es vorher jedes Mal gewesen war. Da war jemand.An der nächsten Kreuzung verschwand eine Figur hinter einem der langgestreckten Gebäude. Er war ganz sicher, dass er sich das nicht eingebildet hatte. Oder doch fast sicher.
    Beim Rennen machten seine Schritte ein hallendes Geräusch. Als ob der Boden aus Metall wäre und darunter ein hohler Raum. Er rannte, so schnell er konnte, und wurde dabei nicht müde. Aber das fiel ihm erst später auf.
    Er kam zur Kreuzung und sah als Erstes, dass dort, genau in der Mitte der Straße, ein Handschuh lag. Jemand musste ihn an dieser Stelle deponiert haben, um einen Ort zu markieren, an dem er schon gewesen war.
    Links, wo sich auch wieder Fassaden ins scheinbar Unendliche erstreckten, bewegte sich jemand von ihm weg. Ein Mensch. Der junge Mann schrie und gestikulierte und rannte.
    Es war eine Frau. Sie hörte seine Schritte, drehte sich um und schaute ihm ohne Neugier entgegen. Eine junge Frau, etwa in seinem Alter. Ein altmodisches Kleid aus einem schweren braunen Stoff. Ein weiter Rock und ein Oberteil mit vielen Knöpfen. Klobige Schuhe.
    ‹Gott sei Dank›, sagte er. Er war nicht außer Atem, aber er stammelte vor Aufregung. ‹Gott sei Dank. Ich bin so glücklich, dass ich endlich jemanden getroffen habe.›
    Die Frau wies mit einer Handbewegung auf die fensterlosen Gebäude, die sich in beiden Richtungen aneinanderreihten. ‹Hier gibt es viele Jemande›, sagte sie.
    ‹Jemand, mit dem man reden kann.›
    ‹Das will man nur am Anfang›, sagte die Frau. ‹Wie lange sind Sie schon hier?› Er wollte auf seine Uhr schauen, abersie war stehengeblieben. Die Frau hatte die Bewegung beobachtet und nickte. ‹Ich sehe schon: noch nicht lange.›
    ‹Und Sie?›, fragte er.
    ‹Es war Herbst›, sagte sie. ‹Einer dieser späten heißen Tage. Kaiserwetter. Keine schwierige Tour, meinte er. Nicht, wenn man am Seil gesichert ist. Vielleicht ist es gerissen. Oder ein Stein hat sich unter meinen Füßen gelöst. Ich weiß es nicht. Natürlich nicht. Vielleicht war es ein Blitz. Obwohl da nirgends ein Gewitter war.›
    ‹Ich verstehe nicht›, sagte er.
    ‹Sie haben Zeit›, sagte die Frau. ‹Bis man es herausgefunden hat, hat man wenigstens etwas zu tun.›
    Diesmal ließ sie sich nicht aufhalten. Ging an ihm vorbei, als ob er nicht da wäre. Er konnte ihr nur nachsehen. Auf der Kreuzung bückte sie sich und nahm den Handschuh auf. Dann war sie verschwunden.
    Ein paar Tage lang begegnete ihm kein anderer Mensch. Vielleicht waren es auch Wochen. Er wusste es nicht, weil das Licht sich nicht veränderte. Es wurde nicht dunkler und nicht heller. Einmal versuchte er, die Zeit zu messen, indem er die eigenen Schritte zählte. Aber er kam beim Zählen durcheinander und gab den Versuch wieder auf.
    Er wurde nicht müde, ganz egal ob er weiterging, sich hinsetzte oder auf den Boden legte. Er fühlte sich immer gleich. Nicht unangenehm. Nur ein bisschen Hunger hatte er die ganze Zeit.
    Am Anfang betrat er immer mal wieder ein Gebäude. Nur am Anfang. Sie waren alle voller Menschen, die ihn nicht wahrnahmen. Eine Halle mit Gitterkäfigen, deren Insassen sich mit blutrünstigen Schreien gegen die Stäbe warfen.Eine andere mit Reihen von Badewannen, in denen lagen Männer und Frauen, auch Kinder, hatten die Köpfe unter Wasser und bewegten sich nicht. Nur manchmal zuckten ihre Arme und Beine. Und so weiter und so weiter. Bald ging er an den Eingängen achtlos vorüber.
    Einmal kam er zu der Kreuzung, auf der sein Taschentuch lag. Er nahm es wieder mit und legte es woanders hin. Und ging weiter durch die leeren Straßen. Ohne müde zu werden, aber immer ein bisschen hungrig.»
    «Und die Frau hat er nie mehr getroffen?», fragte der König.
    «Irgendwann vielleicht», sagte die Prinzessin. «Ich weiß es nicht. Aber er traf jemand anderes. Viel später erst.»
    «Mach’s nicht so spannend», sagte der König.
    «Wie du willst», sagte die Prinzessin. «Der Mann, der an einer Kreuzung plötzlich vor ihm stand, war ein dicker, fröhlicher Pfarrer. Ein weißes Kragenband und eine schwarze Soutane über einem runden Bauch.»
    «Ein Pfarrer?»
    «Warum
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