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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht
Autoren: Charles Lewinsky
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ihm die blutenden Füße verbinden ließ. Sie hätte ihren Beruf für ihn aufgegeben, so dankbar war sie ihm für seine Liebe, aber er verstand, dass das ein zu großer Verlust für sie gewesen wäre, opferte sein Glück ihrem Talent und verfolgte nur noch fern und unerkannt, wie sie von Triumph zu Triumph tanzte.
    Für den alten Mann war sie eine traurige Braut, für Geld an einen lieblosen Altar geschleppt, er hatte sie gerettet und entführt, in ein fernes Land, eine andere Welt, wo sie verzauberte Tage miteinander verbrachten, keusch wie Geschwister. Bis ein anderer auftauchte, ein Jüngerer, der besser zu ihr passte. Er verzichtete selbstlos und sagte beim Abschied: ‹Wenn du nur glücklich wirst.›
    Sie war das eine gewesen und das andere. Und jetzt sollte sie für alle Zeiten beides sein. Ihr eigener Zwilling. Je mehr sich die Bilder in den Köpfen der beiden Männer verfestigten, desto mehr zerriss es sie. Sie wollte ihn nicht anklagen, ganz bestimmt nicht, aber in zwei Vergangenheiten gleichzeitig zu sein, das war schwer zu ertragen. Allein fand sie keinen Ausweg, aber er war doch ein Künstler, er hatte doch Einfälle, er musste doch eine Lösung finden können, damit sie nicht länger ...
    Mitten im Satz brach sie ab und hob wie lauschend den Kopf. ‹Er ist aufgewacht›, sagte sie. Als sie hinausgegangen war, lief er ihr nach. Aber da waren keine Schritte auf der Treppe.»
    «Hm», sagte der König. «Und dann?»
    «Er wusste nicht, wo er sie finden sollte, musste sich wohl von ihr finden lassen, so wie es schon zweimal geschehen war. Es war alles seine Schuld, das sah er jetzt ein. Er hatte gepfuscht, jawohl: gepfuscht. Er hatte diesem wunderbaren Wesen etwas Unverzeihliches angetan, hatte sie in eine Lage gebracht, die nicht zu ertragen war. Aber er würde alles wiedergutmachen, ganz bestimmt, sie würde wieder glücklich sein, würde ihn dankbar anlächeln, und er würde sie in die Arme nehmen, beschützend und tröstend, sie würde den Kopf an seine Brust legen, und er würde ihr über die Haare streichen und sagen: ‹Es ist ja wieder gut, mein Kleines, es ist ja alles wieder gut.›»
    «Und dann mit ihr in die Kiste steigen.»
    «Möglich, dass er auch daran dachte», sagte die Prinzessin. «Wenn er es auch sicher anders genannt hätte. Er war verliebt.»
    «In eine ausgedachte Frau?»
    «Es konnte gar nicht anders sein. Er hatte sie so erfunden, wie sie war, hatte sie sogar zweimal erfunden, weil er sich so und nicht anders eine Frau zum Verlieben vorstellte. Jetzt war er ihr begegnet, der Künstler seinem Kunstwerk, und was konnte selbstverständlicher sein, als dass sie zusammengehörten?
    Er wartete in jeder Stunde auf sie, aber sie tauchte nicht mehr auf, nicht an diesem Tag, nicht am nächsten und nichtam übernächsten. Nur einmal glaubte er sie von weitem in einer Menschenmenge zu sehen, und er war ganz sicher, dass sie weinte.»
    «Mach voran», sagte der König. «Ich hab nicht die ganze Nacht.»
    «Er wusste, was er zu tun hatte», fuhr die Prinzessin fort. «Sie lebte in zwei widersprüchlichen Erinnerungen, und sie litt darunter. Also durfte es diesen Widerspruch nicht länger geben. Er hatte die Erinnerungen in die Welt gebracht, und er konnte sie auch wieder verschwinden lassen. Was er geschaffen hatte, konnte er auch wieder zerstören.
    Für gewöhnlich vermied er nach erfolgter Lieferung jeden Kontakt zu seinen Kunden. Sie hatten bei ihm ein Stück Leben gekauft, um es zu ihrem eigenen zu machen. Die Person des Verkäufers störte dabei nur. Der fette Mann war denn auch gar nicht erfreut, ihn zu sehen. Aber er ließ ihn doch eintreten, und da die Pistole einen Schalldämpfer hatte, hörten die Nachbarn nichts von den Schüssen. Der alte Mann machte es ihm leichter. Seine Tür stand offen, vielleicht in Erwartung eines Pflegedienstes, und er wachte nicht einmal auf, als er ihm das Kissen ins Gesicht drückte.
    Zu Hause stand er lang unter der Dusche, zuerst ganz heiß und dann eisig kalt. Mit seiner Garderobe gab er sich mehr Mühe, als es seine Gewohnheit war, und hatte dann doch einen Blutfleck auf der Hose, weil ihm ein Champagnerglas aus der Hand fiel und er sich an den Scherben schnitt.
    Aber als sie an die Tür klopfte, war alles perfekt. So wie er es erträumt hatte. Genau so. Sie war erlöst und dankbar, er hielt ihre Finger in den seinen, und sie sagte: ‹Du hast sostarke Hände.› Ihre Augen waren tief und rätselhaft, und wenn Tränen in ihnen schimmerten, dann waren
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