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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht
Autoren: Charles Lewinsky
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schüttelte ganz langsam den Kopf. Immer wieder. Im Zoo hatte die Prinzessin einmal einen Eisbären gesehen, der hatte sich stundenlang so bewegt. Damals war sie noch ein Kind gewesen.
    Der König versuchte sich die Hose von den Beinen zu streifen. Er hatte immer noch seine Schuhe an. Die teuren italienischen Schuhe, die er nur zu besonderen Anlässen trug.
    Die Prinzessin stieg aus dem Bett, kniete vor ihm nieder und wollte ihm helfen. Der Schuh traf sie mitten ins Gesicht.
    «Das war nicht nötig», sagte sie.
    «Ich brauche keine Hilfe», sagte der König. «Ich habe noch nie Hilfe gebraucht.»
    «Ich weiß», sagte die Prinzessin.
    «Einmal habe ich ein Auto hochgehoben. Ganz allein. Damit sie einen Mann drunter vorziehen konnten. Ein Auto. Mit bloßen Händen.»
    «Du hast es mir erzählt», sagte die Prinzessin.
    «Mir muss niemand helfen. Mir nicht.» Er hob die Arme, wie um zuzuschlagen, und ließ sie wieder sinken. «Ach was», sagte er. «Scheißegal. Komm her und mach mir die Schuhe auf.»
    Als er dann neben ihr lag, tastete er nach ihrer Hand und berührte eine Fingerspitze nach der anderen. Als ob er sie zählen würde.
    «Die Medizin ist eine einzige Abzocke», sagte der König. «Da geht man zum besten Arzt, zum Professor persönlich, geht als Privatpatient ...»
    Darum die Schuhe, dachte die Prinzessin.
    «... und was sagt er einem? ‹Es kann auch etwas Harmloses sein.› Kann. Hat da die teuersten Geräte stehen und sagt: ‹Kann.› Lässt einen fünf Wochen auf einen Termin warten. Mehr als einen Monat. Ein schwarzer Fleck auf dem Röntgenbild, aber das ist ihm scheißegal. Eine Pistole am Hals, aber das kümmert ihn nicht. ‹Kann›, sagt er. Kann auch nur eine Platzpatrone sein.»
    «Ich wusste nicht, dass du krank bist», sagte die Prinzessin.
    «Ich sterbe vielleicht», sagte der König. «Ich sterbe, und du willst mir Geschichten erzählen.»
    «Dafür kommst du her.»
    «Spar dir deine Scheißmärchen», sagte der König. «Leg sie unter die Matratze und pass gut auf sie auf. Du wirst sie brauchen, wenn du dir dann neue Kunden suchen musst.»
    «Du siehst nicht krank aus», sagte die Prinzessin.
    «Das Zeug ist hinterhältig.» Der König ließ sich auf den Rücken fallen und faltete, wie zur Probe, die Hände über der Brust.
    Sie hörte ihn atmen, eine Minute lang oder zwei. Dann wälzte er sich zur Seite und drehte ihr den Rücken zu. «Jetzt erzähl schon deine Scheißgeschichte», sagte er.
    «Sie wird dir nicht gefallen.»
    «Fang an», sagte der König.
    «Aber interessieren wird sie dich», sagte die Prinzessin. «Das wird sich zeigen.»
    «Es war einmal ein junger Mann», begann sie, «der wollte nur über die Straße gehen.»
    «Was soll das für eine Geschichte sein?»
    «Er kam von der Arbeit und war unterwegs nach Hause. Für gewöhnlich nahm er die U-Bahn, auch wenn es nur zwei Stationen waren, aber heute war es draußen angenehm warm, und er hatte nichts Besonderes vor. Also bummelte er ganz gemütlich, und als er auf der anderen Straßenseite ein Lokal entdeckte, das gerade erst neu eröffnet hatte, wollte er hinübergehen, um sich die Speisekarte anzusehen. Er hatte ein kleines bisschen Hunger.
    Er war ein ordentlicher junger Mann und wartete, bis die Ampel grün wurde. Dann ging er los und war gerade in der Mitte der Straße angekommen, als plötzlich ...»
    «... ein Auto angefahren kam und ihn überfuhr», sagte der König. «Das ist wirklich eine Scheißgeschichte.»
    «Nein», sagte die Prinzessin. «Als plötzlich die ganze Straße verschwunden war. Einfach nicht mehr vorhanden. Wie im Film, wenn man nach einem Schnitt plötzlich an einem ganz anderen Ort ist. Vorher waren da Läden gewesen, das neue Lokal und der Eingang eines Kinos. Jede Menge Leute, Autos und Fahrräder. Jetzt war alles leer. Kein Bürgersteig und keine Fahrbahn. Nur eine Art Piste, kerzengerade und endlos lang, auf beiden Seiten gesäumt von fensterlosen Fassaden. Wie Lagerschuppen sahen sie aus, oder wie Hangars von Flugzeugen.»
    «Und wie war er da hingekommen?», fragte der König.
    «Das ist der Schluss der Geschichte», sagte die Prinzessin. «Hast du es so eilig?»
    «Erzähl», sagte der König.
    «Die Veränderung passierte so plötzlich», fuhr sie fort, «dass sie ihm seinen letzten Gedanken mitten entzweischnitt. Ich habe ..., hatte er noch auf der alten Straße gedacht, ... Hunger, dachte er schon auf der neuen. Aber da war kein Lokal mehr. Da war gar nichts mehr. Nur diese langen,
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