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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht
Autoren: Charles Lewinsky
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blinden Fassaden links und rechts.
    Er blieb stehen.
    Kein Verkehr. Nirgendwo ein Straßenschild. Der Boden völlig sauber. Kein Zigarettenstummel und kein Fetzen Papier.
    Ich träume, dachte er zuerst. Aber er lag nicht im Bett und war auch nicht an seinem Schreibtisch eingedöst. Er war wirklich an diesem fremden Ort, für den er keine Erklärung hatte.
    Er versuchte festzustellen, wo Osten und wo Westen war, konnte aber die Sonne nicht finden. Der Himmel war von einem einförmigen schimmernden Grau, wie manchmal an Herbsttagen, wenn der Dunst das Licht einebnet. So regelmäßig war das Licht, das es auf dem Boden keine Schatten warf.»
    «Keine Schatten?», fragte der König. «Wird das eine Gruselgeschichte?»
    «Würde dich das stören?», fragte die Prinzessin.
    Der König gab keine Antwort, und so erzählte sie weiter. «Der junge Mann beschloss, seine neue Umwelt zu erkunden. Irgendwo muss jemand sein, überlegte er. Wenn es Fabriken sind, muss jemand darin arbeiten, und wenn es Lagerhallen sind, muss sie jemand organisieren. Er wählte sich also eine Richtung aus, ganz zufällig, und ging los, immer einer Fassade entlang. Die Wand, der er folgte, war aus einem grünlichen Material, für das er keinen Namen hatte. Man konnte mit der Hand daran entlangfahren, und die Hand wurde nicht schmutzig.
    Schließlich kam er an eine Kreuzung. Nach links und nach rechts erstreckte sich eine andere leere Straße, und auch an ihr standen Lagerhäuser. Hangars. Fabriken. Was immer das für Gebäude waren.
    Ich muss mir merken, wo ich schon gewesen bin, überlegte er. In seinem Jackett fand sich eine Packung Papiertaschentücher und mitten auf der Kreuzung legte er eins auf den Boden. Er hätte es gern mit etwas beschwert, aber er sah nirgends einen losen Stein oder ein Holzstück. Seinen Schlüsselbund wollte er dazu nicht hergeben und seinen Geldbeutel auch nicht. So legte er das Taschentuch hin, undals er sich später danach umdrehte, hatte es sich nicht bewegt. Es gab hier auch keinen Wind, fiel ihm auf.
    Er ging weiter geradeaus, einer anderen Fassade entlang. Als er die Wand mit den Fingern berührte, spürte er ein leichtes Pulsieren, als ob dahinter eine große Maschine liefe. Wenn er sich sehr anstrengte, konnte er sogar deren Geräusch hören. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.»
    «Das ist eine Scheißgeschichte», sagte der König. «Weißt du das eigentlich?»
    «Ich weiß», sagte die Prinzessin. «Aber es gibt keine andere.»
    Der König knetete an seinem Bauch herum. «Irgendwo da drin», sagte er. «Ein schwarzer Fleck. Es kann auch gutartig sein, meint er.»
    «Hast du Schmerzen?»
    «Du sollst erzählen und keine Fragen stellen. Keine Scheißfragen. Dafür bezahl ich dich nicht.»
    «Wie du willst», sagte die Prinzessin. «Der Mann ging also immer weiter geradeaus ... »
    «Und geradeaus und geradeaus ... », äffte sie der König nach.
    «... und das Maschinengeräusch wurde lauter und lauter. Zwei Töne, die sich abwechselten. Im immer gleichen langsamen Rhythmus. Ein dumpfes Wummern und ein etwas helleres Pfeifen. Wummern und Pfeifen. Und plötzlich, genau in der Mitte der Fassade, war da eine Öffnung in der Wand. Keine Tür, nur eine Öffnung. Natürlich ging er hinein. Er fand sich in einer großen, durch nichts unterteilten Halle voller Betten.»
    «Betten?», sagte der König.
    «Betten», sagte die Prinzessin. «Sie standen da in ordentlichen Reihen, immer eins neben dem andern, in einem Abstand, der gerade ausreichte, dass man zwischen ihnen hindurchgehen konnte. Nach links und nach rechts erstreckten sich die Reihen, weiter als er sehen konnte, wahrscheinlich bis zum Ende des Gebäudes. Und nach jeder Reihe kam die nächste und wieder die nächste und wieder die nächste.»
    «Betten?»
    «In denen Menschen lagen», sagte die Prinzessin. «Jeder mit einem Schlauch verbunden, der sich von der Decke herabschlängelte. Die meisten von ihnen hatten die Augen geschlossen, aber auch die anderen schienen ihn nicht zu sehen. Selbst wenn er sie anfasste, reagierten sie nicht.»
    «Was waren das für Menschen?», fragte der König.
    «Ganz verschiedene. Männer und Frauen. Die meisten von ihnen schon alt, aber es gab auch junge darunter und sogar Kinder. Sie lagen einfach da, manche auf dem Rücken und manche auf der Seite, mit angezogenen Beinen. Sie atmeten alle im gleichen Takt. Im Takt der Maschine.»
    «Ein Krankenhaus?», fragte der König.
    «Nicht wirklich», sagte die Prinzessin.
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