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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht
Autoren: Charles Lewinsky
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schmaler, mädchenhafter Körper. Große, fragende Augen voll ungeweinter Tränen. Eine Frau, für die man Gedichte schreibt oder im Frühjahr den allerersten Flieder aus fremden Gärten stiehlt. Eine Frau, die man beschützt. Und er hatte keine Ahnung, woher er sie kannte.
    ‹Helfen Sie mir weiter›, sagte er. ‹Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern ...›
    ‹Andere können es›, sagte die Frau. ‹Das ist ja das Schlimme.› Sie hob ganz plötzlich den Kopf, als ob jemand sie gerufen hätte, streckte die Hand aus, wie um sich an ihm festzuhalten, und ging dann ganz schnell fort. Er folgte ihr mit den Blicken, bis sie zwischen den Menschen am Ufer verschwunden war, und hätte schon im nächsten Augenblick nicht mehr sagen können, wie sie ausgesehen hatte.»
    «Blond», sagte der König. «Lange blonde Haare.»
    «Das reicht nicht. Kannst du die Augen zumachen und mir beschreiben, wie ich aussehe?»
    «Um dich geht es nicht», sagte der König. «Ich bin hier der Kunde. Also halt den Mund, und erzähl weiter.»
    «Entschuldige», sagte die Prinzessin. «Als er nach Hause kam, wartete die Frau auf dem Treppenabsatz. Er sperrte die Tür auf, und sie folgte ihm hinein. Im Wohnzimmer setzte sie sich in die äußerste Ecke des Sofas, die Hände auf den Knien. ‹Sie schlafen jetzt›, sagte sie. ‹Alle beide.›
    Er hatte keine Ahnung, von wem sie sprach.
    ‹Keiner von ihnen weiß, dass es den andern gibt›, sagte die Frau. ‹Aber ich weiß es. Du hättest das nicht tun dürfen.› Sie hob die Hand, um eine Frage abzuwehren, die er noch gar nicht gestellt hatte. ‹Ich bin nicht gekommen, um dir Vorwürfe zu machen. Wirklich nicht. Aber mit wem sonst kann ich darüber sprechen?›
    Und dann erzählte sie. Sie berichtete von zwei Männern, der eine schon sehr alt und manchmal nicht mehr ganz bei Verstand, der andere übermäßig dick, durch eine Krankheit aufgequollen oder vielleicht auch nur durch unbeherrschte Fressgier. Beide lebten sie für sich allein, keiner in ärmlichen Verhältnissen. Sie konnten sich vieles leisten und leisteten es sich auch. Wahrscheinlich, sagte sie, waren sie damals aus ganz verschiedenen Beweggründen auf den gleichen Gedanken gekommen, wie wohl jeder seiner Kunden einen anderen, eigenen Antrieb für seine Investition hatte.
    Er erschrak, denn in seinem Gewerbe war Diskretion wichtig. ‹Was wissen Sie von meinen Kunden?›, fragte er.
    ‹Zu viel›, antwortete die Frau. ‹Manchmal ist es nicht auszuhalten.›»
    Draußen gingen wieder Schritte vorbei, diesmal in die andere Richtung. Wahrscheinlich war es dieselbe Person wievorher, hatte etwas abgegeben oder jemanden nicht angetroffen. Der König lauschte dem Geräusch nach, bis es ganz verklungen war. «Lang kann ich heute nicht bleiben», sagte er.
    «Du bist gar nicht hier», sagte die Prinzessin.
    «Aber die Geschichte will ich noch zu Ende hören. Kannst du sie abkürzen?»
    «Ganz wie du willst», sagte die Prinzessin. «Aber das kostet dann nicht weniger.»
    «Darauf soll’s nicht ankommen», sagte der König. «Erzähl.»
    «Beide Männer, der alte und der fette, hatten bei ihm einmal Erinnerungen gekauft. Nichts Ausgefallenes. Viel Zärtlichkeit hatten sie bestellt und vor allem das Wissen, einmal geliebt worden zu sein. Das Übliche. Er hatte bei den Aufträgen nicht direkt gepfuscht, das hätte sein Künstlerehrgeiz nie zugelassen, aber er hatte sich doch nicht ganz die Mühe gegeben, die seinen Honoraren angemessen gewesen wäre. Hatte die erste brauchbare Lösung genommen und nicht nach einer zweiten, besseren gesucht.
    Und er hatte, aus reiner Flüchtigkeit, einen unverzeihlichen Fehler begangen. In beiden Erinnerungen kam dieselbe Frau vor. Exakt dieselbe Frau. Ein zerbrechliches, zum Beschützen einladendes Wesen mit langen hellblonden Haaren. Und jetzt war sie zu ihm gekommen, um sich darüber zu beschweren.»
    «Soll das heißen: In seinem Zimmer saß eine Frau, die hatte er sich nur ausgedacht?»
    «Denken wir uns nicht immer die Menschen aus, in die wir uns verlieben?»
    «Das ist mir zu philosophisch», sagte der König.
    «Die beiden Männer erinnerten sich an dieselbe Frau, hatten sie beide geliebt, und waren beide von ihr geliebt worden. Diese widersprüchlichen Erinnerungen rissen sie hin und her, immer von einem zum andern und wieder zurück.
    Für den fetten Mann war sie eine Tänzerin gewesen, eine, die im Scheinwerferlicht schwerelos über die Bühne schwebte, und sich dann im Dunkeln von
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