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Zaster und Desaster

Zaster und Desaster

Titel: Zaster und Desaster
Autoren: René Zeyer
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wurden, das passierte ihm häufiger in letzter Zeit. Er griff nach einem Kleenex, wischte sich die Augen ab und beförderte das Papierbällchen in den Abfallkorb. Ein selten hässliches Modell, dachte Kuster, wer hat da meinen filigranen Papierkorb aus gebürstetem Stahl ausgewechselt und durch diesen hässlichen Plastikeimer ersetzt? Kommen die Einschläge wieder näher, will man mich fertigmachen? Kuster warf einen Blick unter seinen Schreibtisch, aber da war nichts, nur ein grauer Linoleumboden. Kuster zwinkerte mit den Augen und griff zum nächsten Kleenex, wieso Linoleum? Plötzlich hörte er hinter sich hämisches Gelächter, erschreckt drehte er sich um. Da standen doch tatsächlich Bürgisser, Müller und Wladimir und schütteten sich aus vor Lachen. Aber wieso hatten die auf einmal Haifischköpfe, wieso lachten die einfach weiter mit ihren breiten Haifischmäulern, voll von messerscharfen Reißzähnen? Kuster wischte sich nochmals mit einem Kleenex über die Augen, und dann war da wieder nur eine weiße Wand. Ob das wohl die ersten Anzeichen von einem Burnout sind, dachte Kuster erschreckt, das kann ich im Moment aber gar nicht gebrauchen, kurz vor dieser alles entscheidenden Reise in die Karibik.
    Kuster wollte sich die Krawatte lockern und stellte befremdet fest, dass er gar keine trug. Ach, heute ist ja casual Friday, dachte er dann erleichtert. Dann schüttelte er verwirrt den Kopf, bin ich hier in eine Art Zeitschlaufe geraten? Vielleicht sollte ich mal eine kurze Pause machen, und Kuster legte das Blatt Papier auf den Stapel rechts auf seinem Schreibtisch. Was für ein unordentlicher Haufen, dachte er dann, Ordnung ist das oberste Prinzip eines erfolgreichen Private Bankers. Er nahm den Stapel in beide Hände und wollte ihn auf dem Tisch zurechtklopfen. Dabei fiel ihm auf, dass die meisten Blätter beschrieben waren. Hektisch begann er zu blättern. Überall stand oben links Wladimir, zweimal unterstrichen, dann Stolichnaya Ultra Premium und am Schluss in Klammern: Aidstest vorlegen lassen.
    Kuster erstarrte. Dann wollte er sich die Krawatte lockern, aber er fand keinen Krawattenknopf. »Casual Friday«, murmelte er, »ich muss etwas an die frische Luft.« Er stand auf, wankte zur Türe und wollte auf die Klinke drücken. Aber er fand keine. »Müller«, brüllte er, »was haben Sie mit der Türe gemacht?« Höhnisches Gelächter brandete an seine Ohren, aber er war zu ängstlich, um sich umzudrehen. Stattdessen begann er, gegen die Türe zu schlagen und zu treten. »Wladimir wartet auf mich«, brüllte er, »ich muss zum Flughafen, wichtige Geschäfte, ich muss, ich kann doch nicht, ich, ich, ich …«
    »Wieder ein Anfall«, sagte Doktor Lugginbühl, und der Pfleger nickte: »Wir mussten ihn sedieren.« Sie standen vor Kuster, der auf seinem Bett festgeschnallt worden war und blicklos an die weiße Wand seiner Zelle starrte.

Im Auge des Sturms
    Kann sich noch jemand an die Zeiten erinnern, als keine Gangster hinter den Bankschaltern standen?
     
    Bis vor Kurzem galt ein ehernes Gesetz für jeden Banküberfall: schnell rein, schnell mit der Kohle raus. »Ich brauche eine Minute vierzig. Nüchtern«, sagt im Film »Public Enemies« John Dillinger, der 30er-Jahre-Gangster, der bis zu seinem frühen Tod rund 300000 Dollar erbeutete. Dafür wurde er zum ersten »Staatsfeind Nr. 1« der USA erklärt – und erschossen. Im Vergleich zu den modernen Bangsters war er ein blutiger Anfänger. Ein Stümper. 300000 Dollar klaut heute ein High-frequency-Trader in 0,03 Sekunden. Nüchtern, besoffen oder bekokst. Und legal. Alleine mit diesem neuen Trick aus der Hexenküche der Finanzingenieure wurden in wenigen Monaten über 21 Milliarden Dollar an Gewinnen abgeräumt, fast die Hälfte aller Börsengeschäfte an der Wall Street werden heutzutage so gemacht. Gegenleistung, wirtschaftlicher Nutzen, Wertschöpfung: null.
    Was ist viel profitabler, als Werte zu erschaffen? Natürlich, Werte erfinden. Das weltweite Bruttosozialprodukt, so weit sich das überhaupt messen lässt, beträgt jährlich rund 50 Billionen Dollar. Darum herum kreisen 700 Billionen virtuelles Geld in Form von Finanzderivaten, also reinen Luftnummern. Geld zu fälschen ist anstrengend und strafbar. Virtuelles Geld herzustellen ist kinderleicht und legal. Ich nehme zum Beispiel zwanzig real existierende Euro aus meinem Portemonnaie und leihe sie mir. Dann fordere ich sie wieder von mir zurück. Schon habe ich neben meinen realen zwanzig Euro einen
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