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Yolo

Yolo

Titel: Yolo
Autoren: Gisela Rudolf
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Riesenschnauzer sehen! Ein vierjähriger Rüde, unkastriert natürlich, ich mag Eunuchen auch im Tierreich nicht. Rabenschwarz, wie er ist, heißt er, naheliegend, Nero, er …«
    Feigenblatt fällt dem Redseligen ins Wort: »Nero war aber blond und blauäugig.«
    Kroner quittiert Feigenblatts Einwand mit einem spöttischen Grinsen: »Als Nichthistoriker scheinen Sie sich in der Geschichte gar nicht so schlecht auszukennen.« Und zu mir gewandt: »Sie haben doch sicher auch einen Hund?«
    »Ich? Nein. Aber ich mag Hunde.«
    »Heutzutage haben wir es mit unseren Vierbeinern ja auch nicht mehr leicht, von Jahr zu Jahr gibt es mehr Hundehasser.«
    Ich tupfe mir mit der Serviette den Mund sauber und stehe auf: »Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe Kopfschmerzen, ich möchte mich gerne hinlegen.«
    Noch bevor ich das Zimmer erreiche, sehe ich alles wieder vor mir. Die böse Hundegeschichte wurde zum Schlussakt meiner Tragödie. Monate vorher schon hatte sich die Abwärtsspirale zu drehen begonnen. Beziehungsprobleme, Mobbing an der Schule, Vaters Tod und seine Hinterlassenschaft – und schließlich der Selbstmord meiner Lieblingsschülerin!
    Den absoluten Tiefpunkt erreichte mein Dasein bei ihrer Beerdigung. Sonja nachzufolgen, schien mir eine Option, ja beinahe ein nötiger Akt der Solidarität. Womit ich unverhofft einen Grund hatte. Weil alles im Leben seinen Grund braucht. Auch der Tod.
    In der Kirche saß ich bei meiner Klasse gleich hinter Sonjas Eltern und ihren Verwandten. Die Trauerreden steigern sich ins Unerträgliche, insbesondere wenn Sonjas Unfall erwähnt wird. Eine Mitschuld meinerseits gibt es nicht, das haben die Untersuchungen bewiesen. Sonja hat sich nach dem Orientierungslauf ohne mein Wissen von der Gruppe entfernt. Der Rektor hebt das in seiner Ansprache deutlich hervor. Wie das Mädchen abstürzen konnte, bleibt unerklärlich. Selbstmordabsichten werden ausgeschlossen. Ich scheine die Einzige zu sein, die anderes denkt.
    Den wenigen, die beim Schlusslied mitsingen, bleibt die Orgel zwei Töne voraus. Tibor neben mir schluchzt wie ein kleines Kind. Der Priester, schmächtig und mit hoher Stimme, wirkt in seinem steifen Übergewand wie ein verbrauchter Schauspieler. Mit Mimik und Gestik bemüht, seine leeren Worte zu beleben. »Das Paradies ist nicht auf Erden«, und: »Gottes Wege sind unergründlich. Aber wir dürfen auf Gott vertrauen, denn Gott ist die Quelle des Lichts, in seinem Licht …«
    Auf dem Friedhof erbat der Priester wieder den Segen von oben. Mit einem gewaltigen Donner ergoss sich eine dunkle Gewitterwolke in das offene Grab, und die Trauernden suchten Schutz unter dem Dach der Aufbahrungshalle.
    Als ich mein Beileid aussprach, verweigerte mir Sonjas Mutter die Hand.
    Ich ging nicht zum Traueressen, sondern nach Hause, wechselte die Kleider, jogge los. Am Kanal, wo das Ufer felsig und steil ins Wasser abfällt, rast ein Hund kläffend auf mich zu, eine Frau läuft hinter ihm her, ruft geradezu hysterisch »Strolchi! Strolch, Fuß, sofort Fuß! Willst du endlich Fuß machen!« Doch der Hund biss zu, und ich weiß nicht, ob es der Schmerz im Unterschenkel oder der Schrecken war, dass ich mich offenbar total falsch verhielt: Ich wehrte mich mit Händen und Füßen gegen den zweiten und dritten Biss, schrie – der Hund ließ nicht von mir ab. Bevor ich umfiel, versuchte ich mit letzter Kraft, das Biest von mir zu stoßen – schlussendlich landeten wir beide im steilen Ufer, ich neben einem Felsen, der Hund im Wasser, tot.
    Im Polizeibericht hieß es, ich hätte den Hund absichtlich getötet. Ein Gespräch verweigerte die Besitzerin, mit Hundehassern rede sie nicht, ließ sie ausrichten.
    Meine größte Erleichterung sind die Nächte, in denen ich das Bewusstsein abgeben kann. Heute indes gelingt mir das Einschlafen nicht. Ich nehme meinen iPod und versuche es mit einer Oper.
    Orfeo ed Euridice
fährt wie eine Droge ein.
    Sehnsucht nach einem Menschen, der neben mir läge und dieselbe Musik hörte!
    Schwere Träume. Darin sage ich: Ich bin am Ende.
    Eine Frau gibt sich selber eine Ohrfeige und malt mit der Zahnpasta Fratzen auf den Spiegel. Beim Zähneputzen kommt mir diese Filmszene in den Sinn. Die Fratze, die mich anstarrt, zählt, ohne den Mund zu bewegen, Adjektive auf: unfähig, selbstbezogen, überfordert, wertlos. Ausgemustert.
    Ent-täuscht.
    Tatsächlich bin ich an einem Punkt angelangt, wo meine Selbsttäuschung ein Ende hat: Hätte ich Sonjas seelische Verfassung
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