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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
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die nur das nehmen, was ihnen die Pflanzen freiwillig geben. Darüber wieder wären die Freefrutarier, die das, was die Pflanzen ihnen freiwillig geben, auch noch aus den Müllcontainern der Supermärkte holen würden. Weiter oben in der Hierarchie stünden die Freefruresiduelianer, die nichts mehr essen, was einen Schatten wirft, und sich nur von dem ernähren, was die Freefrutarier von ihren Mahlzeiten übrig ließen. Und nur eine kleine Gruppe, die Führungselite seien Freefruresdefectianer, Menschen, die sich ausschließlich von den Abfällen und Ausscheidungen der Freefruresiduelianer ernährten. Diese Elite, die der Einfachheit halber nach dem Grad an Ernährungsreinheit »Stufe 7« genannt werde, würde alle Entwicklungen steuern und kontrollieren. Das Ganze sei ein elitäres, ja monarchisches System, denn es sei wohl offensichtlich, dass nur eine Minderheit auf Stufe 7 leben kann.
    Als Brühwürfel mit seinen Erläuterungen fertig war, sah er erschöpft aus. Ich sagte ihm ganz offen, dass ich nicht alles von dem glauben könne, was er mir da erzählte. Eine Verschwörung der Nicht-Fleischessenden zugunsten eines Weltbrandes, das war mir dann doch zu viel.

    Ja, das sei harter Tobak, gab er zu. Aber wer bereit sei, seine Augen zu öffnen, der könne sehen. Ich solle mal im Internet recherchieren, über die Tofubären, die für die Gewinnung dieses angeblich ethisch so korrekten Nahrungsmittels ermordet werden, über die Cholesterinlüge, dieses wichtigen Bestandteils köstlicher Nahrungsmittel, der von einer unheiligen Allianz aus Pharma- und Margarineindustrie seit Jahrzehnten inkriminiert werde. Er jedenfalls versuche mit ein paar gleichgesinnten Freunden den karnivoren Widerstand zu organisieren. Er drückte mir noch einen »Mein Essen scheißt auf dein Essen!«-Aufkleber in die Hand, auf dem eine Kuh gerade einen Haufen auf einen Salatkopf setzt. Nachdenken, ich solle nur mal nachdenken bei einer kleinen Tasse Fleischbrühe, mehr würde er ja nicht von mir verlangen.

[Menü]
Rückfall / Fortschritt
    Verdammt, dachte ich, im Grunde hatte der Brühwürfel recht. Verstehen Sie, was ich meine, Herr Kommissar? Früher gab es doch auch überall Fleisch, in den Ladentheken, an den Imbissständen, auf den Buffets und in den Kantinen, und niemand würde ernsthaft behaupten, dass die Zeiten damals schlechter gewesen waren. Seit Urzeiten hatten sich die Menschen gefreut, wenn sie Fleisch essen konnten. Ich selbst hatte tagtäglich Fleisch gegessen und mich großartig gefühlt, kaum dass ich mal einen Tag krank gewesen wäre. Und dann? Ich war unvorstellbar niedergeschlagen, kraftlos und hatte keine Freude mehr am Leben. Wenn der Verzicht auf Fleisch dazu auch noch keinerlei Sinn hatte und ich damit sogar eine schreckliche Verschwörung der Tofu-Industrie unterstützte, dann war es an der Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Ich entschloss mich, wieder Fleisch zu essen.

    Es dauerte mehr als zwei Tage, mich für ein erstes Fleischgericht nach der langen Zeit zu entscheiden. Die von Brühwürfel vorgeschlagene Fleischbrühe erschien mir zu banal, zu würdelos, als würde ich die Frau meiner Träume in einem heruntergekommenen Vorort von Las Vegas heiraten. Mir irgendwas vom Imbiss auf der Verkehrsinsel zu holen, sagte mir auch nicht zu. Kaum einer macht sich klar, dass Wurstprodukte heutzutage oft so fleischarm sind, dass sie sich kaum von vegetarischen Produkten unterscheiden, vollgestopft mit Sojamasse und Semmelbröseln, wie sie sind. Wie wäre es aber mit einer großen Portion Blutwurst? Das reine geronnene Schweineblut, vermengt nur mit ein paar Gewürzen? Warm dampfend auf dem Teller erinnerte es an die erste Mahlzeit, die ein Bauer beim Schlachten zu sich nehmen kann. Oder eine eingelegte Kammscheibe?
    Schließlich fiel meine Entscheidung auf ein Rumpsteak mit Kräuterbutter. Das hatte das Echte, Unverfälschte, was ich suchte. Und es gab viel zu kauen. Mein erstes Mal seit langer Zeit, ich wollte diese Mahlzeit zu einem Ereignis machen.
    Ich hatte es mir schwerer vorgestellt, im Supermarkt in den abgetrennten Fleischbereich zu gehen. Würden mich die anderen Kunden verächtlich ansehen, würde ich lange warten müssen, bevor mir dieTür geöffnet wurde? Aber es war ganz leicht. Der Mann an der Tür wollte noch nicht einmal meinen Ausweis sehen und schon war ich drinnen. Dort lag hinter Glas kilogrammweise das Glück. Ich brauchte einen Moment, mich an den Anblick zu gewöhnen. Und als mich die Verkäuferin
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