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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und glücklich, endlich in Frieden einzuschlafen. Aber ich bin sicher, daß das nicht stimmt.
    Am nächsten Abend, auf die Nachricht von ihrem Tod, flog ich nach Österreich. Das Flugzeug war wenig besetzt, ein gleichmäßiger, ruhiger Flug, eine klare Luft ohne Nebel, weit unten die Lichter wechselnder Städte. Beim Zeitunglesen, Biertrinken, Aus-dem-Fenster-Schauen verging ich allmählich in einem müden, unpersönlichen Wohlgefühl. Ja, dachte ich immer wieder und sprach im stillen die Gedanken jeweils sorgfältig nach: DAS WAR ES . DAS WAR ES . DAS WAR ES . SEHR GUT . SEHR GUT . SEHR GUT . Und während des ganzen Fluges war ich außer mir vor Stolz, daß sie Selbstmord begangen hatte. Dann setzte das Flugzeug zur Landung an, und die Lichter wurden immer größer. Aufgelöst in einer knochenlosen Euphorie, gegen die ich mich nicht mehr wehren konnte, bewegte ich mich durch das ziemlich verlassene Flughafengebäude.
    Auf der Weiterfahrt im Zug am folgenden Morgen hörte ich einer Frau zu, einer Gesangslehrerin der Wiener Sängerknaben. Sie erzählte ihrem Begleiter, wie unselbständig die Sängerknaben noch später als Erwachsene blieben. Sie hatte einen Sohn, der auch Mitglied der Sängerknaben war. Auf einer Tournee durch Südamerika war er als einziger mit dem Taschengeld ausgekommen, hatte sogar noch etwas zurückgebracht. Er wenigstens versprach, vernünftig zu werden. Ich konnte nicht weghören.
    Ich wurde mit dem Auto vom Bahnhof abgeholt. In der Nacht hatte es geschneit, jetzt war es wolkenlos, die Sonne schien, es war kalt, ein glitzernder Reif schwebte in der Luft. Was für ein Widerspruch, durch eine heiter zivilisierte Landschaft, bei einer Witterung, in der diese Landschaft so sehr zu dem unveränderlichen tiefblauen Weltraum darüber zu gehören schien, daß man sich gar keinen Umschwung mehr vorstellen konnte, auf das Sterbehaus mit dem vielleicht schon gärenden Leichnam zuzufahren! Bis zur Ankunft fand ich keinen Anhaltspunkt und kein Vorzeichen, so daß mich der tote Körper in dem kalten Schlafzimmer wieder ganz unvorbereitet traf.
    Viele Frauen aus der Umgebung saßen nebeneinander auf den aufgereihten Stühlen, tranken den Wein, den man ihnen reichte. Ich spürte, wie sie beim Anblick der Toten allmählich an sich selber zu denken anfingen.
    Am Morgen des Beerdigungstages war ich mit der Leiche lange allein im Zimmer. Auf einmal stimmte das persönliche Gefühl mit dem allgemeinen Brauch der Totenwache überein. Noch der tote Körper kam mir entsetzlich verlassen und liebebedürftig vor. Dann wieder wurde mir langweilig, und ich schaute auf die Uhr. Ich hatte mir vorgenommen, wenigstens eine Stunde bei ihr zu bleiben. Die Haut unter den Augen war ganz verschrumpelt, hier und da lagen auf dem Gesicht noch die Weihwassertropfen, mit denen sie besprengt worden war. Der Bauch war von den Tabletten ein bißchen aufgebläht. Ich verglich die Hände auf ihrer Brust mit einem Fixpunkt weiter weg, um zu sehen, ob sie nicht doch noch atmete. Zwischen Oberlippe und Nase gab es überhaupt keine Furche mehr. Das Gesicht war sehr männlich geworden. Manchmal, wenn ich sie lange betrachtet hatte, wußte ich nicht mehr, was ich denken sollte. Dann wurde die Langeweile am größten, und ich stand nur noch zerstreut neben der Leiche. Aber als die Stunde vorbei war, wollte ich trotzdem nicht hinaus und blieb über die Zeit bei ihr im Zimmer.
    Dann wurde sie fotografiert. Von welcher Seite sah sie schöner aus? »Die Zuckerseite der Toten.«
    Das Begräbnisritual entpersönlichte sie endgültig und erleichterte alle. Im dichten Schneetreiben gingen wir hinter den sterblichen Überresten her. In den religiösen Formeln brauchte nur ihr Name eingesetzt zu werden. »Unsere Mitschwester…« Auf den Mänteln Kerzenwachs, das nachher herausgebügelt wurde.
    Es schneite so stark, daß man sich nicht daran gewöhnte und immer wieder zum Himmel schaute, ob es nicht nachließ. Die Kerzen erloschen eine nach der andern und wurden nicht mehr angezündet. Mir fiel ein, wie oft man las, daß jemand sich bei einer Beerdigung die spätere Todeskrankheit geholt hatte.
    Hinter der Friedhofsmauer begann sofort der Wald. Es war ein Fichtenwald, auf einem ziemlich steil ansteigenden Hügel. Die Bäume standen so dicht, daß man schon von der zweiten Reihe nur noch die Spitzen sah, dann Wipfel hinter Wipfel. Zwischen den Schneefetzen immer wieder Windstöße, aber die Bäume bewegten sich nicht. Der Blick vom Grab, von dem die Leute
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