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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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mitgemacht hatte.
    Die Literatur brachte ihr nicht bei, von jetzt an an sich selber zu denken, sondern beschrieb ihr, daß es dafür inzwischen zu spät war. Sie HÄTTE eine Rolle spielen KÖNNEN . Nun dachte sie höchstens AUCH EINMAL an sich selber und genehmigte sich also ab und zu beim Einkaufen im Gasthaus einen Kaffee, kümmerte sich nicht mehr so SEHR darum, was die Leute dazu meinten.
    Sie wurde nachsichtig zum Ehemann, ließ ihn ausreden; stoppte ihn nicht mehr schon beim ersten Satz mit dem allzu heftigen Nicken, das ihm gleich das Wort aus dem Mund nahm. Sie hatte Mitleid mit ihm, war überhaupt oft wehrlos vor lauter Mitleid – wenn der andere auchgar nicht litt, man sich ihn vielleicht nur in der Umgebung eines Gegenstandes vorstellte, der einem ganz besonders die überstandene eigene Verzweiflung bezeichnete: einer Waschschüssel mit abgesprungenem Email, eines winzigen Elektrokochers, schwarz von der immer wieder übergegangenen Milch.
    War einer der Angehörigen abwesend, kamen ihr von ihm nur noch Einsamkeitsbilder; nicht mehr bei ihr zu Hause, konnte er nur ganz allein sein. Kälte, Hunger, Anfeindungen: und sie war dafür verantwortlich. Auch den verachteten Ehemann schloß sie in diese Schuldgefühle ein, sorgte sich ernsthaft um ihn, wenn er ohne sie auskommen mußte; sogar im Krankenhaus, wo sie öfter war, einmal mit Krebsverdacht, lag sie mit schlechtem Gewissen, weil der Mann zu Hause inzwischen wahrscheinlich nur Kaltes aß.
    Vor Mitgefühl für den andern, von ihr Getrennten, fühlte sie sich selber nie einsam; eine schnell vorübergehende Verlassenheit nur, wenn er sich ihr wieder aufhalste; die unüberwindliche Abneigung vor dem hängenden Hosenboden, den geknickten Knien. »Ich möchte zu einem Menschen hinaufschauen können«; jedenfalls war es nichts, jemanden immer nur verachten zu müssen. Dieser spürbare Überdruß schon bei der eröffnenden Geste, im Laufe der Jahre verwandelt in ein geduldiges Sich-zurecht-Setzen, in ein höfliches Aufblicken von einer Sache,mit der sie sich gerade beschäftigte, knickten den Mann nur noch mehr. KNIEWEICH hatte sie ihn immer genannt. Oft machte er den Fehler, sie zu fragen, warum sie ihn denn nicht leiden könne – natürlich antwortete sie jedesmal: »Wie kommst du denn darauf?« Er ließ nicht nach und fragte sie wieder, ob er wirklich so abstoßend sei, und sie beschwichtigte ihn und verabscheute ihn darauf nur um so mehr. Daß sie zusammen älter wurden, rührte sie nicht, war aber nach außen hin beruhigend, weil er sich abgewöhnte, sie zu schlagen, und nicht mehr gegen sie anstank.
    Von der Arbeit überanstrengt, bei der man ihm täglich die gleiche Schufterei abverlangte, bei der nichts herauskam, wurde er kränklich und sanft. Aus seinem Dösen erwachte er zu einer wirklichen Einsamkeit, auf die sie aber nur in seiner Abwesenheit antworten konnte.
    Sie hatten sich nicht auseinandergelebt; denn sie waren nie richtig zusammen gewesen. Ein Briefsatz: »Mein Mann ist ruhig geworden.« Auch sie lebte ruhiger mit ihm, selbstbewußt bei dem Gedanken, daß sie ihm ein lebenslanges Geheimnis blieb.
    Nun interessierte sie sich auch für die Politik, wählte nicht mehr die Partei ihres Bruders, die der Ehemann als dessen Bediensteter ihr bis jetzt immer vorgewählt hatte, sondern die Sozialisten; und mit der Zeit wählte auch ihrMann sozialistisch, im Bedürfnis, sich an sie anzulehnen. Sie glaubte aber nie, daß die Politik ihr auch persönlich helfen könnte. Sie gab ihre Stimme ab, als Gunst, von vornherein, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. »Die Sozialisten kümmern sich mehr um die Arbeiter« – aber sie selber fühlte sich nicht als eine Arbeiterin.
    Das, was sie immer mehr beschäftigte, je weniger sie bloß wirtschaften mußte, kam in dem, was ihr vom sozialistischen System übermittelt wurde, nicht vor. Mit ihrem in die Träume verdrängten sexuellen Ekel, den von Nebel feuchten Bettüchern, der niedrigen Decke über dem Kopf blieb sie allein. Was sie wirklich betraf, war nicht politisch. Natürlich war da ein Denkfehler – aber wo? Und welcher Politiker erklärte ihr den? Und mit welchen Worten?
    Politiker lebten in einer anderen Welt. Wenn man mit ihnen sprach, antworteten sie nicht, sondern gaben Stellungnahmen ab. »Über das meiste kann man ohnehin nicht reden.« Nur was man bereden konnte, war Sache der Politik; mit dem andern mußte man allein fertig werden oder es mit seinem Herrgott abmachen. Man würde auch
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