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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zurückschrecken, sobald ein Politiker wirklich auf einen einginge. Das wäre nur Anschmeißerei.
    Allmählich kein »man« mehr; nur noch »sie«.
    Sie gewöhnte sich außer Haus eine würdige Miene an, schaute auf dem Beifahrersitz in dem Gebrauchtwagen, den ich ihr gekauft hatte, streng geradeaus. Auch zu Hause schrie sie nicht mehr so beim Niesen und lachte weniger laut.
    (Bei der Beerdigung erinnerte sich dann der jüngste Sohn, wie er sie früher einmal schon von weitem oben im Haus vor Lachen schreien gehört hatte.)
    Beim Einkaufen grüßte sie mehr andeutungsweise nach links und rechts, ging öfter zum Friseur, ließ sich die Fingernägel maniküren. Das war nicht mehr die vorgefaßte Würde, mit der sie im Nachkriegselend das Spießrutenlaufen bestehen wollte – niemand konnte sie wie damals mit einem Blick aus der Fassung bringen.
    Bloß zu Hause, wo sie in der neuen aufrechten Haltung am Tisch saß, während der Ehemann mit dem Rücken zu ihr, das Hemd hinten aus der Hose, die Hände bis zum Grund in den Taschen, stumm, nur ab und zu in sich hineinhustend, ins Tal hinunterschaute, und der jüngste Sohn in der Ecke auf dem Küchensofa rotzaufziehend ein Micky-Maus-Heft las, klopfte sie mit dem Knöchel oft böse auf die Tischkante und legte dann plötzlich die Hände auf die Wangen. Darauf ging der Mann vielleicht manchmal hinaus vor die Haustür, räusperte sich dort eine Zeitlang und kam wieder herein. Sie saß schief da, ließ den Kopf hängen, bis der Sohn ein Brot geschmierthaben wollte. Zum Aufstehen mußte sie sich dann mit beiden Händen aufhelfen.
    Ein anderer Sohn fuhr ohne Führerschein das Auto kaputt und wurde dafür eingesperrt. Er trank wie der Vater, und sie ging wieder von Wirtshaus zu Wirtshaus. Diese Brut! Er ließ sich von ihr nichts sagen, sie sagte ja immer das gleiche, ihr fehlte der Wortschatz, der auf ihn einwirken konnte. »Schämst du dich nicht?« – »Ich weiß«, sagte er. – »Such dir wenigstens woanders ein Zimmer.« – »Ich weiß.« Er blieb im Haus wohnen, verdoppelte dort den Ehemann, beschädigte noch das nächste Auto. Sie stellte ihm die Tasche vors Haus, er ging ins Ausland, sie träumte das Schlimmste von ihm, schrieb ihm »Deine traurige Mutter«, und er kam sofort zurück; und so weiter. Sie fühlte sich schuldig an allem. Sie nahm es schwer.
    Und dann die immergleichen Gegenstände, die in den immergleichen Winkeln zu ihr standen! Sie versuchte, unordentlich zu werden, aber dazu hatten sich die täglichen Handgriffe schon zu sehr verselbständigt. Gern wäre sie einfach so weggestorben, aber sie hatte Angst vor dem Sterben. Sie war auch zu neugierig. »Immer habe ich stark sein müssen, dabei wollte ich am liebsten nur schwach sein.«
    Sie hatte keine Liebhabereien, kein Steckenpferd; sammelte nichts, tauschte nichts; löste keine Kreuzworträtselmehr. Schon lange klebte sie auch die Fotos nicht mehr ein, räumte sie nur aus dem Weg.
    Sie nahm am öffentlichen Leben nie teil, ging nur einmal im Jahr zum Blutspenden und trug am Mantel das Blutspendeabzeichen. Eines Tages wurde sie als hunderttausendste Blutspenderin im Rundfunk vorgestellt und bekam einen Geschenkkorb überreicht.
    Manchmal beteiligte sie sich beim Kegelschieben auf der neuen automatischen Kegelbahn. Sie kicherte mit geschlossenem Mund, wenn die Kegel alle umfielen und es läutete.
    Einmal grüßten im Radio-Wunschkonzert Verwandte aus Ost-Berlin die ganze Familie mit dem Hallelujah von Händel.
    Sie hatte Angst vor dem Winter, wenn sich alle im selben Raum aufhielten. Niemand besuchte sie; wenn sie etwas hörte und aufschaute, war es wieder nur der Ehemann: »Ach, du bist das.«
    Sie bekam starke Kopfschmerzen. Tabletten erbrach sie, die Zäpfchen halfen bald auch nicht mehr. Der Kopf dröhnte so, daß sie ihn nur noch ganz sanft mit den Fingerspitzen berührte. Der Arzt gab ihr wöchentlich eine Spritze, die sie eine Zeitlang betäubte. Dann richteten auch die Spritzen nichts mehr aus. Der Arzt sagte, sie solle den Kopf warm halten. So ging sie immer mit einem Kopftuch herum. Trotz aller Schlafmittel wachte siemeist schon nach Mitternacht auf, legte sich dann das Polster auf das Gesicht. Die Stunden, bis es endlich hell wurde, machten sie noch den ganzen Tag hindurch zittrig. Vor Schmerzen sah sie Gespenster.
    Der Mann war inzwischen mit Lungentuberkulose in einer Heilanstalt; in zärtlichen Briefen bat er sie, wieder bei ihr liegen zu dürfen. Sie antwortete freundlich. Der Arzt wußte
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