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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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gekommen war und wie die Zeit vergangen war. Sie hatte überhaupt kein Zeit- und Ortsgefühl mehr.
    Sie wollte keinen Menschen mehr sehen, setzte sich höchstens ins Gasthaus unter die Leute aus den Touristenbussen, die es zu eilig hatten, ihr ins Gesicht zuschauen. Sie konnte sich nicht mehr verstellen; hatte alles von sich gestreckt. Jeder, der sie ansah, mußte wissen, was los war.
    Sie fürchtete, den Verstand zu verlieren. Schnell, bevor es zu spät sein würde, schrieb sie zum Abschied noch ein paar Briefe.
    Die Briefe waren so dringlich, als hätte sie versucht, sich selber dabei in das Papier zu ritzen. In dieser Periode war das Schreiben für sie keine Fremdarbeit mehr wie sonst für Leute in ihren Lebensumständen, sondern ein vom Willen unabhängiger Atmungsvorgang. Man konnte freilich mit ihr über fast nichts mehr sprechen; jedes Wort erinnerte sie wieder an etwas Schreckliches, und sie verlor sofort die Fassung. »Ich kann nicht reden. Quäl mich doch nicht.« Sie wendete sich ab, wendete sich noch einmal ab, wendete sich weiter ab, bis sie sich ganz weggedreht hatte. Dann mußte sie die Augen zumachen, und stille Tränen rannen nutzlos aus dem weggedrehten Gesicht.
    Sie fuhr zu einem Nervenarzt in der Landeshauptstadt. Vor ihm konnte sie reden, er war als Arzt für sie zuständig. Sie wunderte sich selber, wieviel sie ihm erzählte. Beim Reden fing sie sich erst richtig zu erinnern an. Daß der Arzt zu allem nickte, was sie sagte, die Einzelheiten sogleich als Symptome erkannte und mit einem Übernamen – »Nervenzusammenbruch« – in ein System einordnete, beruhigte sie. Er wußte, was sie hatte; konnte zumindest ihre Zustände benennen. Sie war nicht die einzige; im Vorzimmer warteten noch welche.
    Beim nächsten Mal machte es ihr schon wieder Spaß, diese Leute zu beobachten. Der Arzt riet ihr, viel in der frischen Luft spazierenzugehen. Er verschrieb ihr eine Medizin, die den Druck auf den Kopf ein bißchen lockerte. Eine Reise würde sie auf andere Gedanken bringen. Sie bezahlte ihn jeweils in bar, weil die Arbeiterkrankenkasse bei ihren Mitgliedern diese Ausgaben nicht vorsah. Es bedrückte sie wieder, daß sie Geld kostete. Manchmal suchte sie verzweifelt nach dem Wort für eine Sache. Sie wußte es in der Regel, wollte damit nur, daß die anderen an ihr teilnahmen. Sie sehnte sich nach der kurzen Zeit zurück, in der sie wirklich niemanden mehr erkannt und sich nichts mehr gemerkt hatte.
    Sie kokettierte damit, daß sie krank gewesen war; spielte die Kranke nur noch. Sie tat, als sei sie wirr im Kopf, um sich der endlich klaren Gedanken zu erwehren; denn wenn der Kopf ganz klar wurde, sah sie sich nur noch als Einzelfall und wurde taub für das tröstliche Eingeordnetwerden. Indem sie Vergeßlichkeit und Zerstreutheit übertrieb, wollte sie, wenn sie sich dann doch richtig erinnerte oder eigentlich ja alles genau mitgekriegt hatte, ermutigt werden: Es geht ja! Es geht ja schon viel besser! –als ob alle Greuel nur darin bestanden, daß sie sich wurmte, das Gedächtnis verloren zu haben und nun nicht mehr mitreden zu können.
    Sie vertrug nicht, daß man mit ihr Witze machte. Sie mit ihrem Zustand zu hänseln, half ihr nicht. SIE NAHM ALLES WÖRTLICH . Sie brach in Tränen aus, wenn vor ihr jemand eigens den Munteren spielte.
    Im Hochsommer fuhr sie für vier Wochen nach Jugoslawien. Die erste Zeit saß sie nur im verdunkelten Hotelzimmer und tastete sich den Kopf ab. Lesen konnte sie nichts, weil die eigenen Gedanken sofort dazwischenkamen. Immer wieder ging sie ins Badezimmer und wusch sich.
    Dann traute sie sich schon hinaus und watete ein bißchen im Meer. Sie war zum ersten Mal in den Ferien und zum ersten Mal am Meer. Das Meer gefiel ihr, in der Nacht war oft Sturm, dann machte es nichts, wenn sie wach lag. Sie kaufte einen Strohhut gegen die Sonne und verkaufte ihn am Abfahrtstag zurück. Jeden Nachmittag setzte sie sich in die Bar und trank einen Espresso. Sie schrieb allen ihren Bekannten Karten und Briefe, die von ihr selber nur unter anderem handelten.
    Sie bekam wieder einen Sinn für den Zeitablauf und die Umgebung. Neugierig belauschte sie die Gespräche anden Nebentischen, versuchte herauszukriegen, wie die einzelnen Leute zusammengehörten.
    Gegen Abend, wenn es nicht mehr so heiß war, ging sie durch die Dörfer im Umkreis und schaute in die türlosen Häuser hinein. Sie wunderte sich sachlich; denn sie hatte noch nie eine solch kreatürliche Armut gesehen. Die Kopfschmerzen
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