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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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vorbeisaust. Aber ob es dann auch hundertprozentig klappt?«
    »Gestern habe ich im Fernsehen von Dostojewski ›Die Sanfte‹ gesehen, die ganze Nacht sah ich ganz grauenvolle Dinge, ich habe nicht geträumt, ich sah sie wirklich, ein paar Männer gingen nackt da herum und hatten an Stelle des Geschlechtsteiles Därme herunterhängen. Am 1. 12. kommt mein Mann nach Hause. Ich werde mit jedem Tag unruhiger und habe keine Vorstellung, wie es noch möglich sein wird, mit ihm zusammenzuleben. Jeder schaut in eine andere Ecke, und die Einsamkeit wird noch größer. Ich friere und werde noch ein bißchen herumrennen.«
    Oft schloß sie sich zu Hause ein. Wenn die Leute wie üblich vor ihr jammerten, fuhr sie ihnen über den Mund. Sie war zu allen sehr streng, winkte ab, lachte kurz aus. Die anderen waren nur noch Kinder, die sie störten und höchstens ein bißchen rührten.
    Sie wurde leicht ungnädig. Man wurde von ihr barsch zurechtgewiesen, kam sich in ihrer Gegenwart auch scheinheilig vor.
    Beim Fotografieren konnte sie kein Gesicht mehr machen. Sie runzelte zwar die Stirn und hob die Wangen zu einem Lächeln, aber die Augen schauten mit aus der Mitte der Iris verrutschten Pupillen, in einer unheilbaren Traurigkeit.
    Das bloße Existieren wurde zu einer Tortur.
    Aber ebenso grauste sie sich vor dem Sterben.
    »Machen Sie Waldspaziergänge!« (Der Seelen arzt.)
    »Aber im Wald ist es finster!« sagte der Tier arzt des Ortes, manchmal ihr Vertrauter, höhnisch nach ihrem Tod.
    Tag und Nacht blieb es neblig. Zu Mittag versuchte sie, ob sie das Licht ausschalten könnte, und schaltete es gleich wieder an. Wo hinschauen? Die Arme übereinanderkreuzen und die Hände auf die Schultern legen. Ab und zu unsichtbare Motorsägen, ein Hahn, der den ganzen Tag glaubte, es fange gerade erst Tag zu werden an,und bis in den Nachmittag weiterkrähte, – dann schon die Feierabendsirenen.
    In der Nacht wälzte sich der Nebel gegen die Fensterscheiben. Sie hörte, wie in unregelmäßigen Zeitabständen außen am Glas ein neuer Tropfen ins Rinnen kam. Die ganze Nacht blieb unter dem Leintuch die elektrische Bettmatte geheizt.
    Am Morgen ging im Herd immer wieder das Feuer aus. »Ich will mich nicht mehr zusammennehmen.« Sie brachte die Augen nicht mehr zu. In ihrem Bewußtsein ereignete sich der GROSSE FALL . (Franz Grillparzer)
    (Ab jetzt muß ich aufpassen, daß die Geschichte nicht zu sehr sich selber erzählt.)
    Sie schrieb an alle ihre Angehörigen Abschiedsbriefe. Sie wußte nicht nur, was sie tat, sondern auch, warum sie nichts andres mehr tun konnte. »Du wirst es nicht verstehen«, schrieb sie an ihren Mann. »Aber an ein Weiterleben ist nicht zu denken.« An mich schickte sie einen eingeschriebenen Brief mit der Testamentsdurchschrift, zusätzlich per Eilboten. »Ich habe ein paarmal zu schreiben angefangen, aber ich empfand keinen Trost, keine Hilfe.« Alle Briefe waren nicht nur wie sonst mit dem Datum versehen, sondern auch noch mit dem Wochentag: »Donnerstag, 18. 11. 71.«
    Tags darauf fuhr sie mit dem Omnibus in die Bezirkshauptstadt und besorgte sich mit dem Dauerrezept, das ihr der Hausarzt ausgestellt hatte, etwa hundert kleine Schlaftabletten. Obwohl es nicht regnete, kaufte sie sich dazu einen roten Regenschirm mit einem schönen, ein wenig krumm gewachsenen Stock.
    Am späten Nachmittag fuhr sie mit einem Omnibus, der in der Regel fast leer ist, zurück. Dieser und jener sah sie noch. Sie ging nach Hause und aß im Nachbarhaus, wo ihre Tochter wohnte, zu Abend. Alles wie üblich: »Wir haben noch Witze gemacht.«
    Im eigenen Haus saß sie dann mit dem jüngsten Kind vor dem Fernsehapparat. Sie schauten einen Film aus der Serie »Wenn der Vater mit dem Sohne« an.
    Sie schickte das Kind schlafen und blieb bei laufendem Fernseher sitzen. Am Tag vorher war sie noch beim Friseur gewesen und hatte sich maniküren lassen. Sie schaltete den Fernseher aus, ging ins Schlafzimmer und hängte ein zweiteiliges braunes Kleid an den Schrank. Sie nahm alle Schmerztabletten, mischte ihre sämtlichen Antidepressiva darunter. Sie zog ihre Menstruationshose an, in die sie noch Windeln einlegte, zusätzlich zwei weitere Hosen, band sich mit einem Kopftuch das Kinn fest und legte sich, ohne die Heizmatte einzuschalten, in einem knöchellangen Nachthemd zu Bett. Sie streckte sich aus und legte die Hände übereinander. In dem Brief, dersonst nur Bestimmungen für ihre Bestattung enthielt, schrieb sie mir am Schluß, sie sei ganz ruhig
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