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Würde - Roman

Titel: Würde - Roman
Autoren: PeP eBooks
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tauchen kleine Abzweigungen auf, es werden scheinbar unwichtige Entscheidungen gefällt, die ihn jedoch immer weiterführen. Die Gabelungen sind so unmerklich, dass er auf derselben Insel zu bleiben scheint und lange nicht einmal bezweifelt, dass diese Insel seine Bestimmung ist.
    Angst, Bequemlichkeit, Ekel - das sind die Zäune, die ihn eingrenzen. Sie mögen kaum zu erkennen sein, und doch sind sie stärker als jede Fessel. Wenn er die Insel jetzt verlässt, wird er mit anderen Welten zusammenstoßen - Welten, die nur wenige Zentimeter entfernt an ihm vorbeirauschen. Etwas Unbekanntes wird ihn ergreifen, und diese Möglichkeit jagt ihm Furcht ein. Die Vorstellung ängstigt ihn, frei dahinzulaufen, hin- und hergeschleudert zu werden durch den Zusammenprall mit fremden Menschen. Aber zugleich weiß er, dass er das Ende seines bisherigen
Weges erreicht hat und sich jetzt entscheiden muss: Entweder überwindet er die Grenze, oder er schreckt vor ihr zurück und erstarrt für immer.
    Sie steht hinter der offenen Tür, vor den neugierigen Blicken der Vorübergehenden verborgen, und wartet darauf, dass er eintritt. Er holt tief Luft und macht einen Schritt in den Gang hinein. Sie weicht nicht zurück. Jetzt ist er ihr ganz nah. Der Hausflur liegt im Dämmerlicht, das nach der grellen Sonne auf der Straße angenehm ist. Es riecht nach Sandelholz, Zedern und Palmöl.
    Der Duft erinnert ihn an ein Strandhaus am Meer von Inhambane, wo er als Kind gewesen war. Er saß dort auf einer Holzveranda und bohrte die Zehen in den warmen Sand, während über ihm im nachmittäglichen Wind Palmwedel rauschten. Neugierig beobachtete er Fischer mit entblößten Oberkörpern, die ihre Boote an den kleinen Strand zogen. Die abblätternden Farben der Planken leuchteten rot, grün und gelb. Das nach Teeröl riechende Holz lief zu einem Kiel zusammen, der eine tiefe Spur im Sand hinterließ. Kleine Fische waren an zusammengeknüpfte Schnüre gebunden, das Salzwasser tropfte von den muskulösen Rücken der Männer. Dem Jungen stieg der Vanilleduft der Kastanien und der Cashewnüsse in die Nase, die auf einem Feuer in der Nähe rösteten. Hinter ihm auf der Veranda zerstampfte eine junge Hausangestellte Maiskörner für das Abendessen. Den Rock hatte sie sich bis zu den Hüften hochgeschoben. Sie roch nach Kernseife und Haaröl.
    Die Tür fällt leise hinter ihm ins Schloss.
    »Willkommen im Touch of Africa . Ich bin Abayomi. Deine Freude.«

1
    Stefan Svritsky war ein Mann, der schon vor langer Zeit seine Angst gemeistert hatte. Sein Sieg über die Angst erlaubte es ihm, die Furcht anderer gnadenlos auszunutzen. Er entstammte einer armen Familie aus Murmansk, einer Stadt auf der Halbinsel Kola im äußersten Nordwesten Russlands. Obwohl der Hafen das ganze Jahr über eisfrei war und deshalb historisch als wichtiger Marinestützpunkt galt, lag Murmansk doch nördlich des Polarkreises, und das Leben in dem verschmutzten Sozialwohnungsblock war hart. Sein Vater hatte sich als Deckhelfer auf einem Flottenversorgungsschiff verdingt und zu Hause dieselbe militärische Disziplin verlangt, die er selbst bei der Arbeit ertragen musste. Er terrorisierte seine kleine Familie mit harschen Befehlen und einem aufbrausenden Gemüt. Sein Tod, die Folge eines Unfalls auf See, wurde von allen als Atempause erlebt, auch wenn das niemand laut aussprach. Gleichzeitig mussten sich die Zurückgebliebenen nun mit einer dürftigen Witwenrente über Wasser halten. Um über die Runden zu kommen, verließ Svritsky schon früh die Schule und arbeitete ebenso wie sein älterer Bruder als Schiffsbelader im Handelshafen.
    Sein Bruder schien mit der harten Knochenarbeit auf den beißend kalten Piers zufrieden zu sein, aber Stefan wartete bald sehnsüchtig darauf zu entkommen. Nach einer Weile bemerkte er, dass bestimmte Ladungen anders behandelt wurden als der
Rest. Während die meiste eingehende Fracht einen gnadenlosen sowjetischen Verwaltungsaufwand durchlaufen musste, wurden die Holzkisten, die für die Dienststellen der örtlichen Miliz bestimmt waren, unter den wachsamen Augen des Polizeioberkommissars auf einen gesonderten Lastwagen verladen und weggebracht. Svritsky stellte sicher, dass er beim Entladen dieser Güter stets anwesend war, und er nickte dem Kommissar ehrerbietig zu, ehe die Kisten abtransportiert wurden.
    Nach ein oder zwei Monaten begann der Mann, ihn ebenfalls zu grüßen, indem er den Kopf ein wenig zur Seite legte, um zu bedeuten, dass er die
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