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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche
Autoren: Judith Kuckart
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geboren bin, warum ich gelebt habe und wie, könnte er sich sagen. Ich muss wissen, ob die Wege, die ich nicht eingeschlagen habe, neben denen, die ich schon gegangen bin, noch möglich sind, und muss wissen, was mit meinen Sehnsüchten ist. Ob es denen für immer bestimmt ist, Sehnsucht zu bleiben. Friedrich dreht sich um zu Haus Wünsche und wirft einen Blick auf seine eigene Silhouette, die sich in der Schaufensterscheibe spiegelt. Er sieht einen Mann im Anzug in der Winterkälte, der weder alt noch jung ist, aber kräftig aussieht. Da steht er also, Vater von zwei Kindern und noch nicht geschieden von Annalisa. Noch heißt seine Frau auch Wünsche, wie die Kinder.
    Wie er.
    Nah bei Friedrich sagt Fräulein Möller zu den beiden Transporteuren etwas von einem bestimmten Schlangengrün, das im kommenden Jahr Mode sein soll. Stück für Stück bauen die beiden Männer die alte Drehtür im Loch zur Straße ein, während Fräulein Möller über Moden plaudert. Friedrich dreht sich zum Marktplatz zurück.
    Der Bus hat endlich in Zentimeterarbeit den Laster überholt. Der Platz vor Kirschs Fotoladen ist jetzt leer. Zwei Frauen laufen hintereinander her die Bahnhofstraße hinunter. Vera folgt Meret. Auch daran scheint sich in den letzten Jahrzehnten wenig geändert zu haben. Zwei Reihen alter Akazienbäume rahmen die Entfernung ein. Ein Auto hupt kurz, als es die beiden überholt. Es ist der alte Karmann-Ghia von Gerrit Rochowiak, dem Rehlein, das den Computerladen neben der Kirche hat. Meret dreht sich um, Vera nicht. Mit fast jeder hübscheren Frau in der Stadt hat das Rehlein ein Verhältnis gehabt. Auch mit Meret. Mit Vera nicht. Deshalb wird er Vera heute Nachmittag noch immer mit jener gewissen glänzenden Neugier im Blick anschauen, die Friedrich am letzten Silvester bereits aufgefallen ist.
    Warum machen Sie das alles hier, Chef?
    Fräulein Möller, mit einem Rosa auf den Wangen, das nicht nur von der Kälte kommt, ist dicht an ihn herangetreten. Ihr Gesicht ist vor Ungeduld ganz schief.
    Das Wichtigste überhaupt ist doch Folgendes, sagt sie und stockt.
    Ja? Er beugt sich zu ihr.
    Es sollte auf jeden Fall wieder Einheitskleidung geben, flüstert sie. Bitte, Einheitskleidung, schwarz glänzende, wie früher. Passt doch.
    Wozu?
    Zum Konzept.
    Konzept?
    Ihr neuer Retrostil.
    Wer sagt denn so etwas?
    Herr Schneider! Der Name rutscht Fräulein Möller wie ein Jodler heraus.

 
    Mittag
    18.
    Merets Hand auf ihrer Wange ist längst fort, aber der Druck ihrer Fingerspitzen ist geblieben. Vera spürt sie, während sie versucht, am nächsten Automaten Geld abzuheben, und dabei Meret aus den Augen verliert. Egal, wenigstens weiß sie jetzt, wohin mit sich. Sie kann einfach hinter Meret herlaufen, wie früher. Der Grund ist so einfach wie alt: Wäre Meret in ihrem Leben nicht gewesen, Vera hätte nicht gewusst, was zwischen Menschen möglich und wie es überhaupt erlaubt sein kann, dass zwei Mädchen sich so nah sind. An dem Tag, an dem sie nach London gereist sind, haben sie aus dem geöffneten Zugfenster Karatsch und Stilti Knalles gewinkt, die sie zum Zug gebracht hatten. Meret war fünfzehn, sie vierzehn. Plötzlich hatte Meret das Fenster zugeschoben, ohne dass die beiden Erwachsenen auf dem Bahnsteig bereits außer Sichtweite gewesen wären. Sie hatte Vera einen Zettel zugesteckt: Ohne dich könnte ich keine zehn Minuten auf der Welt sein.
    Vera gibt am Automaten die Geheimzahl ein. Wie hoch ist noch mal das Limit? Weiß sie nicht mehr, aber mein Gott, was für gute Jahre sie und Meret miteinander gehabt haben, das weiß sie noch genau, und auch, mit was für einer Wucht sie dahingeflossen sind, bis eines verregneten Tages im letzten September Vera in einer Pfütze vor dieser Imbissbude in Kiel gestanden hatte. Meret, bist du’s, Meret?, hat sie da wie gerade eben gefragt, und die Frau in der Bude hat zur Antwort diese alberne Nummer abgezogen, mein Gott, ja, und wegen all dem hat Vera sich jetzt zum zweiten Mal bei der Geheimzahl vertippt, so dass kommen wird, was kommen muss. Meret ist längst am Ende der Straße beim Bahnhofshotel verschwunden, dort, wo die Ampel immer viel zu lange auf Rot bleibt, was aber für eine wie Meret nicht gilt. Meret geht und steht, wann und wo sie will. Und sie, Vera, die jetzt eigentlich langsamer die Bahnhofstraße hinunterlaufen kann, weil sie nur noch einer Verschwundenen und keiner Verfolgten mehr folgt, bindet sich die Haare straff nach hinten, fühlt sich aufgelöst, müde,
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