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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche
Autoren: Judith Kuckart
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fast wie fünfzig. Wie eine schlanke, welke Blume. Eine Blume ohne Duft. Dreh dich bloß nicht um, ich sehe heute aus wie der Tod, hat Meret vorhin gesagt. Recht hatte sie. Lange ist es nicht mehr bis dahin, mein Gott, ja, und gegen Mittag ist das Licht manchmal so verdammt hell.
    Den Regionalzug zur vollen Stunde kriegt Vera auch nicht mehr.
    Meret, bist du’s, Meret?
    Die Frage hatte Vera drei Monate zuvor gleich auf den ersten Blick stellen wollen, als sie vor dem Imbisswagen stand. Er war an der Längsseite aufgeklappt gewesen. Im Hintergrund: ausgebleichte Fotos von Pommes mit Fleisch, Krautsalat mit Fleisch oder Fleisch mit Fleisch. KNEIDLS BRUTZELBUDE WÜNSCHT GUTEN APPETIT! Vera hatte bei jedem Buchstaben die fettigen Finger vor sich gesehen, die am Schriftzug in Bockwurstform gearbeitet haben mochten: Kneidls Wurstfinger. Der Imbisswagen hatte auf dem Vorplatz des Bahnhofs in Kiel gestanden.
    Meret, bist du’s, Meret?
    Sind Sie Frau Kneidl, hatte Vera die Frau in der Bude stattdessen gefragt, und die hatte Ach so gesagt, ein hohles, beinahe ersticktes Ach so, und dann, das soll wohl eine Anmache sein, oder? Tschuldigung, Vera trat drei Schritte zurück und stieß gegen eine Mülltonne. Die Frau schaute ohne Wimpernschlag zurück, während sie eine schwarz verkrustete Wurst vom Grill auf den Pappteller und den Pappteller auf den Tresen warf. Die Pommes flogen hinterher, während sie sagte, heute im Sonderangebot, alles zusammen 2,99, und haben Sie sonst noch einen Wunsch? Vera schüttelte den Kopf und zählte lose Münzen aus ihrer Manteltasche auf den Tresen. Geht auch alles nicht mehr so schnell wie früher, was, sagte die Frau, aber früher war ja alles anders. Und Vera hatte gedacht, ja, früher sind wir im Kreis durch die Nacht gefahren, um Bäume im Scheinwerferlicht aufzuschrecken, bevor der Mann am Steuer versuchte, die von uns beiden zu küssen, die vorn saß. Die Innigkeit solcher Nächte, wo ist die hin, Meret, hatte Vera da leise gefragt. Die Frau im Imbisswagen hatte sie nicht gehört, oder tat wenigstens so. Sie wischte mit einem grauen Lappen den Tresen ab und schob dabei Veras Pappteller weiter zur Kante vor. Ihre Hände waren so weiß und knitterig, als hätte sie sie eilig in Seidenpapier eingepackt. Der Teller hinterließ eine schmierige Spur, als Vera ihn ganz zu sich heranzog. Sofort verschwand auch die im grauen Lappen. Die Frau nahm eine Karotte, einsame Dekoration zwischen lauter Fertigsalaten, brach die Spitze ab, warf sie in die Luft und fing sie mit dem Mund auf. Die kurze Vorstellung hatte etwas zirkushaft Lustiges und Perverses zugleich, während die Frau den grauen Lappen im Kreis wirbelte, eine Geste, die den Trommelwirbel ersetzen sollte. Dann stellte sie das Radio an. Es war alt, ein kleiner Koffer mit vielen Knöpfen, auf einer Plexiglasscheibe an der Rückwand des Wagens zwischen Senf- und Ketchup-Flaschen. Eine Stimme mit französischem Akzent sprach über Melancholie und Wehmut in Istanbul und Lissabon, als rede sie von Heilpflanzen, die nur in diesen beiden Städten wachsen. Na, die haben ja ein Gemüt, sagte Vera. Das läuft bei mir nur aus Versehen, sagte die Frau, da muss jemand am Programm gedreht haben. Sie beugte sich vor, kaute mit offenem Mund und lächelte dabei. Aber es war das Lächeln einer alten Zahnbürste.
    Heißen Sie vielleicht Meret?, versuchte es Vera nochmals. Die Frage kam kläglicher als gewollt. Die Frau warf ihren Wischlappen hinter sich in die Spüle. Graues, grausames Wasser spritzte auf. Wenn Blicke töten könnten.
    Für Sie immer noch Helga! Kapiert?!
    Wohl zum Frühstück ’nen Clown gegessen, was?, rutschte es da Vera raus. Der Satz hätte von Meret sein können, oder von Helga, egal. Tschuldigung, fügte Vera rasch an, wich den Augen der anderen aus und schaute zum Himmel. Sie wartete ab da nur noch darauf, mit Jo wieder nach Hause fahren zu können, sobald die Veranstaltung für Studienanfänger an der Uni Kiel beendet sein würde. Über ihr wehte ein Band von schwarzen Vögeln und ließ sich nach mehreren Schleifen auf den fetten Buchstaben eines Kinos namens CAPITO nieder, dem das L abhandengekommen war. Wir können einen Zug früher nehmen, Mutter, sagte Jo dicht hinter ihr, ich hab alle Unterlagen. Jo, sagte Vera mit belegter Stimme und drehte sich um. Die Frau in der Bude stieß einen Pfiff wie ein Bauarbeiter aus, und als Vera überrascht zu ihr zurückschaute, zog die andere die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Vera dachte
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