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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche
Autoren: Judith Kuckart
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    Morgen
    1.
    Sie schließt den obersten Knopf des Mantels. Winter. Auch die Autos stehen jetzt länger im Dunkeln. Heute ist Silvester, und an Silvester hat sie Geburtstag. Meine Frau ist immer noch so schön wie früher, sagt Karatsch, nur braucht sie jetzt länger.
    Karatsch ist einssechsundneunzig groß. Wenn er lächelt, zieht er den linken Mundwinkel höher als den rechten. Wie viele Jahre haben sie abends beim Wein am Küchentisch gesessen und über die Dinge gesprochen, die sie mögen?
    Wie lange haben sie es gut miteinander gehabt?
    Lange.
    Auf der Ablage in der Diele liegt seine Uhr. Wenn er ohne Uhr das Haus verlässt, liebt er sie nicht mehr, denn die hat sie ihm geschenkt. Karatsch schläft noch oben im gemeinsamen Schlafzimmer und schwitzt ein wenig. Egal ob Winter oder Sommer, er hat so viel Körpertemperatur, dass man damit eine kleine Sporthalle heizen könnte.
    Vera ist Lehrerin. An ihrer Berufsschule unterrichtet sie die Maler- und Lackiererklassen und manchmal auch die Installateure, Maurer und Schreiner in Gestaltungstechnik und Deutsch. Die Jungen hören ihr gern zu. Vielleicht liegt es an ihrer Stimme, vielleicht auch daran, dass die Schüler ihrerseits schauen, ob sie die Alte da vorn nicht zum Glühen kriegen. Vielleicht ist auch Veras Art daran schuld, wie sie sich im Unterricht auf das Lehrerpult setzt und die Beine übereinanderschlägt, wenn sie die Horde von achtzehnjährigen Malern, Lackierern, Installateuren, Maurern und Schreinern fragt, wie sie sich das Leben ab dreißig vorstellen.
    Und ab vierzig erst.
    Wie man es schaffen kann, dass man gern lebt, bis zum Schluss.
    Ziemlich lange schaut sie sich dann das Schweigen an, bis sie preisgibt, wie sie und ihre beste Freundin sich das Leben einmal vorgestellt haben: in eine große Stadt gehen, am besten nach Berlin, und das gleich nach dem Abitur, um in einem riesigen Zimmer einen langen Tisch mit zwölf Stühlen aufzustellen. Für Freunde. Für Gäste.
    Und was ist mit Kindern, fragen dann die achtzehnjährigen Maler, Installateure, Maurer und Schreiner und manchmal auch die Lackierer, die immer zurückhaltender sind als die anderen.
    Sind auch nur Gast im Leben, sagt Vera dann, und einmal hat einer der hübschen Jungen in der ersten Reihe seinen Freund angestoßen.
    Die würde ich heiraten!
    Würden Sie auch eine Frau heiraten, die liest?
    Lesen Sie viel?
    Der Junge ist rot geworden.
    Klar!, hat Vera gesagt.
    Wieder stieß der Junge seinen Freund an: So eine würde ich sofort heiraten. Sogar lieber als eine andere.
    Warum?, hat Vera gefragt.
    Eine Frau, die liest, kann meine Gefühle besser ausdrücken.
    Zu Veras Überraschung hat keiner der anderen Schüler gelacht.
    Sie zieht ihre Wanderschuhe an, lässt Handy und Haustürschlüssel auf dem Dielenschränkchen liegen und geht. Auf dem kurzen Weg durch den Vorgarten liegt kein Schnee. Erst auf der Straße wirft sie die gestreifte Leinentasche mit den Schwimmsachen über die Schulter und dreht sich noch einmal um zum Bungalow: Flachdach, bevorzugte Hanglage, Baujahr 1971. Die Gärtnerei, die den Nachbarn gegenüber gehört, bietet im Moment keinen winterfrischen Feldsalat aus eigener Ernte an. Heute wird auf der Stelltafel nur HEUTE angeboten. Der Bus an der Ecke kommt jede halbe Stunde den Berg hinauf bis an den Rand der Stadt, um in der Schleife vor Karatschs Haus kehrtzumachen, einige Minuten bei laufendem Motor abzuwarten und wieder zurückzufahren bis zum Hallenbad, zum einzigen Hotel, zum Finanzamt und schließlich zur Endstation Bahnhof, wo auf den vier Gleisen Regionalzüge halten, die schrecklich verwohnt aussehen und die man nur benutzt, wenn man zu jung, zu alt oder zu arm ist, ein Auto zu fahren. »Mumienexpress« hat Karatsch den Bus genannt. Karatsch. Der Name ist ihr noch nie so oft in den Kopf gekommen wie jetzt, da sie in den Silvestermorgen hinausgeht.
    2.
    Er tritt vor seinem Bungalow die Zigarette aus. HEUTE liest er auf der Stelltafel der Gärtnerei gegenüber und kickt die Kippe auf den Gartenweg. Karatsch trägt Stiefel über den nackten Füßen, und das nicht nur zu Hause. Er hasst Socken. Mit den Händen in den Taschen seines fusseligen Bademantels schaut er die leere Straße hinauf und hinunter. Was für ein schöner Morgen. Ein Licht liegt auf der gewohnten Umgebung, ein Licht, welches darüber hinwegtröstet, dass das Leben kurz ist. Karatsch geht in seinen Bungalow zurück und schließt behutsam die Tür hinter sich. Die Kippe wird er später aufheben,
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