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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche
Autoren: Judith Kuckart
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etwas, wischte den Gedanken weg, kratzte ihn mit beiden Händen aus dem Hirn. Für einen Moment hatte auch sie den Sohn mit dem Blick einer Frau gesehen, die nicht seine Mutter ist.
    Was ist, Mutter?
    Nichts, Jo, hatte Vera gesagt.
    Lass uns gehen.
    Jo hatte Vera mit sich fortgezogen, so heftig, dass ihre Schultern mehrmals gegeneinanderstießen.
    Als Vera beim Bahnhofshotel ankommt und die Ampel wie immer auf Rot steht, ist Meret längst verschwunden. Die Glocken der evangelischen Kirche läuten zwölf. Es ist zwanzig nach fünf, zeigt die Bahnhofsuhr über der Schwingtür zur schmuddeligen Kassenhalle an. Vor dem Fahrkartenautomaten liegt ein Penner mit seinen Tüten. AUSSER BETRIEB steht auf dem Zettel über seinem Kopf. Er hat die Turnschuhe ausgezogen und vor sich hingestellt. Ein paar Cent liegen im linken. Prost Neujahr, wünscht er ihr, während sie eine Hand gegen den Automaten stemmt, um das Gleichgewicht zu halten, und mit der anderen Hand das Ticket holt. Das AUSSER BETRIEB gilt nur für den Penner. Er schaut zu ihr auf und hat sehr blaue Augen, so wie Karatsch.
    Prost und Trost auf dem Weg nach Soest, sagt er. Er breitet die Hände aus, und wer kommt jetzt in meine Arme, Püppi?
    Auf Gleis 3 steigt Vera in einen der verwohnten Regionalzüge, die bis in die nächstgrößere Stadt fahren, wo der Flughafen ist. Sie wird sich dort direkt ein Ticket kaufen. Nach London, wahrscheinlich.
    Vera sitzt am Fenster, packt die dunkelblaue Sporttasche von Salomé Schreiner aus und wieder ein, um sich an den Inhalt eines neuen Lebens zu gewöhnen. Als der Zug wegen einer Baustelle langsamer fährt, sieht sie auf einem freien Feld zwischen zwei Baumärkten einen entlaubten Apfelbaum mit roten Früchten an den kahlen Zweigen. Er trägt schwer daran, dass er im Herbst vergessen worden ist. Aber sieht schön aus.
    Das mit London, meine Süßen, das klappt, hatte Stilti Knalles an dem Tag gesagt, als Meret und sie dem Hamster im Keller von Haus Wünsche beim Sterben zusahen. Veras neuer Vater Karatsch zahlt, hatte Stilti Knalles gesagt, und Meret, nimm bitte Platz. Stilti Knalles schob ihren Hintern auf einem weißen Küchenstuhl zurecht, der im Keller gelandet war, weil Mutter Martha sich ihre Nylons an der Sitzfläche zerriss. Stilti Knalles trug keine Nylons, wenigstens nicht auf Arbeit, sondern Kittel mit nichts drunter.
    Was hat er denn? Stilti Knalles legte vorsichtig eine Hand auf den Hamsterkäfig.
    Hodenkrebs, sagte Meret und zeigte auf die Blutblasen zwischen den Hinterpfoten, Hodenkrebs, weil er kein Weibchen haben darf.
    An dem Nachmittag damals im Keller planten sie zu dritt die Fahrt über den Kanal, von Ostende nach Dover. Stilti Knalles war ein guter Ratgeber. Sie war in ihrem Leben schon viel gereist, manchmal sogar täglich zweimal bis nach Australien, das sie dann unter ihrem Zeigefinger auf der Landkarte begeistert festhielt, während sie von kindskopfgroßen Zitronen, beutelschwerer Känguruhitze und klapprigen Häusern ohne Keller erzählte. Stilti Knalles würde eine Liste der Orte machen, die sie in London anschauen mussten. Versprochen! Stilti Knalles wusste sogar, wie sich alles schrieb. Madame Tussauds, Buckingham Palace, Westminster, Hyde Park, Speaker’s Corner, Piccadilly Circus und Oxford Street. Man muss wenigstens im Kopf mal hier weg, hatte Stilti Knalles gesagt, denn regional gesehen ist hier ja nicht viel los.
    19.
    In seinem alten Kinderzimmer unter dem Dach tauscht Friedrich den grauen Anzug gegen seine Wanderschuhe, die schwarzen Jeans, den braunen Gürtel und das weiße Hemd mit schmalen blauen Streifen und Webfehlern am Kragen aus. Er wird das Gleiche tragen wie vergangenes Jahr an Silvester, aber alles ist ein Jahr älter geworden. Er auch.
    Unter der Tür des alten Kinderzimmers bleibt er stehen. Noch immer liegt ein Rest von Kindheitsdunst auf dem schmalen Bett, den alten Turnschuhen mit den offenen Riemen, dem abgeschabten Drehstuhl am Computertisch, dem fast glatzköpfigen Tennisball unter der Heizung und den Geschichtsbüchern aus der Schulzeit im Ikea-Regal, die sich an die Asterix-Hefte und zerlesene Taschenbücher von Stephen King lehnen. In der Ecke steht sein altes Surfbrett. Über dem Schreibtisch hängt die halbe Seite, die Stilti Knalles damals aus der Lokalzeitung gerissen hat. Ich werde einmal Schauspielerin, hatte Vera, dreizehn, in dem Interview gesagt, ohne einen Zweifel aufkommen zu lassen, dass ihre Kraft drei Mal dafür reichte. Und er? Was hatte er damals
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