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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche
Autoren: Judith Kuckart
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bevor Vera nach Hause kommt.
    3.
    Die Brauerei im Herzen der Stadt arbeitet auch an Silvester und verbreitet ihren strengen Atem bis hinauf zum Waldschwimmbad und bis hinunter zum Friedhof. In der Nase den Geruch, den sie seit der Kindheit kennt, geht Vera an den Resten der alten Stadtmauer entlang und die Gasse Richtung Zentrum hinunter. Solange sie denken kann, fallen hier jeden Spätsommer verwilderte Gärten über die Zäune, mit Blumen, die wie gestrickt aussehen. Heute liegt eine Drahtbürste mit einem Knäuel Haare darin auf einer der Fensterbänke und irgendwo zerreißt ein verfrühter Silvesterknaller die kalte Dezemberluft.
    Warum sie gerade heute ihr Handy zu Hause hat liegen lassen und den Haustürschlüssel auch?
    Sie wechselt die Straßenseite. Nach rechts geht es zum Bahnhof, geradeaus zum Friedhof, und da drüben das Reformhaus neben dem türkischen Imbiss verkauft am letzten Tag des Jahres Socken und Holundermarmelade billiger. Jemand grüßt. Sie nickt zurück. Ein plötzlicher Wind teilt der Frau wenige Schritte vor ihr das Haar am Hinterkopf, so dass Vera den grauen Ansatz darin sehen kann.
    Jetzt werden die Tage wieder länger.
    4.
    Stell dir vor, sagt Jo, als Karatsch im Bademantel aus rot-weiß gestreiftem Frottee in die Küche kommt, in dem meistens Vera wohnt. Wäre sie daheim, er hätte keine Chance gehabt, ihn anzuziehen.
    Stell dir vor, wiederholt Jo, ich sitze im Dunkeln, der Himmel schwarz, und ich befehlige einen schrottreifen kleinen Raddampfer, rauche eine Zigarre, während alle anderen an Bord schlafen. Karatsch lacht, ist das ein Traum? Jo wird im neuen Jahr zwanzig, wird acht Semester Schiffbautechnik in Kiel studieren und noch in diesem Winter ein Praktikum auf See machen. Das war kein Traum, sagt Jo, das war mehr so ein Flimmern beim Wachwerden, wo man noch den Ablauf der Bilder wie ein Filmregisseur steuern kann, verstehst du?
    Karatsch nickt aus Faulheit und ohne zu verstehen. Er dreht sich zur neuen Espressomaschine, kramt ein Pad aus der Schublade und vermisst das gemütliche Glucksen seiner ausrangierten Kaffeemaschine, für die er noch immer Filter hinten im Schrank aufbewahrt.
    5.
    Das Hallenbad hat an Silvester bis zwei Uhr geöffnet. Nur einmal ist Vera hier gewesen, vor Jahren, als Jo noch Kindereintritt zahlte. Bei der Kasse läuft sie gegen das Drehkreuz für den Ausgang. Eine Schwarzhaarige zeigt auf die andere Seite. Dort ist Eingang, sagt sie mit polnischem Akzent und schiebt einen Spindschlüssel über den Tresen. Ihre Fingernägel sind rot und lang und beutehungrig. Als Vera die Treppe zur Damenumkleidekabine hinaufgeht, wundert sie sich, dass hier noch immer Gummibäume stehen. Vielleicht weil Gummibäume einen so vertrauenerweckenden Eindruck machen wie früher einmal Konrad Adenauer?
    Ihr Spind ist in Reihe F, Nummer 17. Neben ihr schließt eine Frau im Badeanzug ihre Sachen in den Spind Nummer 15. Sie dreht ihr den Rücken zu, während sie sorgfältig dunkle Cordjeans, eine fellgefütterte helle Wildlederjacke und Westernstiefel einräumt. Zuletzt schiebt sie eine blaue Sporttasche in den Spind. Die Frau ist so groß wie Vera, hat ähnlich schmale Hüften und ähnliches Haar. Ein Blond, das sich ändert, wenn der Himmel sich ändert. Wie alt sie ist? Als die Frau sich umdreht und lächelt, ist sie Ende dreißig und hat ein Gesicht mit Sommersprossen, das Vera mag. Während sie in schwimmbadgrünen Flipflops Richtung Dusche geht, hält Vera gegen die Tür ihres Spinds gelehnt inne. Wenn Karatsch im Bad daheim schräg hinter ihr steht und unter seinem Rasierer das Gesicht zur Grimasse verzieht, sagt er ihr manchmal, wie alt sie aussieht. Schaut er in den Spiegel über dem Waschbecken, sagt er: fünfunddreißig. Senkt er die Lider, um sie von hinten zu betrachten, lächelt er. Zweiundzwanzig. Du hättest tatsächlich Schauspielerin werden sollen, sagt er dann meistens noch. Wenn sie sich danach allein noch einmal im Spiegel betrachtet, fragt sie sich, wieso sie eigentlich Angst vor dem Alter hat. So uralt wie das Bild, das Karatsch von ihr hat, kann sie eh nicht mehr werden.
    Die Männer vom Film haben Vera damals auf der Straße angesprochen. Einer hatte eine Kamera auf der Schulter, der zweite ein großes Heft unter dem Arm, der dritte Narben im Gesicht, und der lächelte sie an. So hat alles angefangen. Es war das Jahr ’77. Sie schaute verdutzt aus ihrer Wolljacke von der Caritas, die am Kragen feucht war vom Atem, und erklärte ihnen den Weg zur
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