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Wu & Durant 02 - Am Rand der Welt

Wu & Durant 02 - Am Rand der Welt

Titel: Wu & Durant 02 - Am Rand der Welt
Autoren: Ross Thomas
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als warte sie nur darauf, von der Leine gelassen zu werden und zu töten. Mit einem Nicken deutete er in ihre Richtung. »Wozu das Kindermädchen?«
    Sie waren noch einige Schritte entfernt, als Stallings murmelnd seine Frage stellte, und Crites antwortete ihm nicht sofort. Zuerst mußte er sich umdrehen, damit ihm die Frau den Mantel wie ein Cape um die Schultern legen konnte. Danach mußte er den Kopf schräg legen und Stallings gründlich von Kopf bis Fuß inspizieren. Erst dann lächelte Harry Crites und antwortete.
    »Feinde«, sagte er. »Was sonst?«
    Ohne eine Antwort oder einen Abschiedsgruß abzuwarten, wandte sich Crites ab und segelte mit wehendem Kamelhaarmantel durch die offene Tür hinaus auf die 15th Street. Die große Frau mit den dollargrünen Augen sah Stallings an, nickte wie zur Bestätigung eines zuvor gefällten Urteils, lächelte freundlich, sagte: »Gute Nacht« und ging hinter Harry Crites durch die Tür hinaus.

4
    Am selben Abend um 23.08 Uhr wartete Booth Stallings unter einer alten Ulme gegenüber dem zweistöckigen, vanillefarbenen Haus mit den schwarzen Fensterläden auf der Südseite der P-Street in Georgetown. Er wartete, bis die letzten beiden Gäste die fünf schmiedeeisernen Treppenstufen herunterkamen und gen Westen zu ihrem Wagen gingen.
    Als die Gäste dreißig Meter entfernt waren, überquerte Stallings die Straße, stieg die Stufen hinauf und betätigte die Türglocke, die eigentlich ein lauter Summer war. Er hörte Schritte auf dem Parkettboden des Eingangsflurs hinter der Tür. Die Schritte hörten auf, aber die Tür wurde nicht geöffnet. Stallings hatte es auch nicht erwartet. Statt dessen sagte hinter der Tür ein tiefer Männerbariton: »Ja«, wobei er das Wort weder wie eine Frage noch wie eine Antwort klingen ließ.
    »Es ist dein Schwiegervater, Mr. Secretary«, sagte Stallings zu dem Mann hinter der Tür, der entweder Stellvertretender Zweiter Staatssekretär oder Zweiter Stellvertretender Staatssekretär war, zwei Rangbezeichnungen, deren feinen Unterschied zu ergründen sich Stallings nie die Mühe gemacht hatte.
    »Himmel, Booth, es ist nach elf«, sagte Neal Hineline hinter der noch immer verschlossenen Tür. »Bist du nüchtern?«
    »So gut wie.«
    Die Tür ging auf, und Stallings betrat eine Empfangshalle, deren Parkettboden altersgemäß anheimelnd knarrte. Eine bemerkenswerte Treppe schwang sich in den ersten Stock hinauf. Sein Schwiegersohn stand – beziehungsweise posierte – neben dem kunstvoll geschnitzten Geländerpfosten; ein derart gut aussehender Mann, daß Stallings es schwer zu glauben fand, daß er so beschränkt war, wie er wirkte. Schwer, aber nicht unmöglich.
    Manchmal hoffte Stallings, daß alles nur Schau sei und daß sich unter dem welligen blonden Haar und hinter den erstaunten Hundeaugen ein großartiges Gehirn verberge, das sich unentwegt alle möglichen Arten von raffinierten internationalen Machenschaften einfallen ließ. Das, so glaubte Stallings manchmal, war eine der letzten ihm verbliebenen Phantasien.
    »Joanna ist da drüben«, sagte Hineline und deutete auf die hundertfünfzig Jahre alten doppelten Schiebetüren des Wohnzimmers, die vom selben Kunsthandwerker mit Schnitzwerk verziert worden waren wie der Geländerpfosten.
    »Ich muß mit dir reden, Neal.«
    »Mit mir?«
    »Mit dir.«
    »Oh. Ja. Natürlich.« Hinelines rechte Hand wanderte automatisch zur Innentasche seiner grauen Tweedjacke. »Tut mir leid wegen der Stiftung, Booth. Wie viel –«
    »Kein Geld«, sagte Stallings und unterdrückte ein Seufzen. »Einen Rat.«
    Hinelines Hand beendete ihren kurzen Ausflug zur Innentasche, wo vermutlich das Scheckbuch ruhte. »Rat«, sagte er.
    Stallings nickte.
    »Hast du deinen Mr. Crites getroffen? Den Mann, der Joanna angerufen hat?«
    »Ich hab ihn getroffen.«
    »Na ja, also dann, warum schaust du nicht kurz rein und sagst Joanna hallo und kommst dann nach hinten in mein Arbeitszimmer, wo wir reden können.«
     
    Joanna Hineline war hübscher als ihre tote Mutter und mit ihren eins siebenundsiebzig fünf Zentimeter größer. Aber es blieb diese verblüffende Ähnlichkeit, die Stallings immer verwirrte, bis seine Tochter den Mund aufmachte. Danach war überhaupt keine Ähnlichkeit mehr da.
    Sie wandte sich nun lächelnd – wenn auch nur verhalten – um, als Stallings das Wohnzimmer betrat, das lang und schmal war und viele französische Antiquitäten enthielt, die sie zu sammeln begonnen hatte, nachdem sie Neal Hineline
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