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Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)

Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)

Titel: Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
Autoren: Paul Beldt
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noch bei meinen Eltern im Hochparterre eines Mietshauses gewohnt hatte, konnte ich mir nicht mal die Nachnamen unserer Nachbarn merken. Das führte häufig zu Missverständnissen, denn durch die Lage der Wohnung waren wir das dankbare Ziel von Postboten, die ihre Pakete wegen abwesender Empfänger bei uns abgeben wollten. Meist lehnte ich mit der Begründung ab, von diesen Leuten noch nie etwas gehört zu haben. Namen vergaß ich im selben Moment, in dem man sie mir mitgeteilt hatte. Nur dank langjähriger Wiederholungen war mir zumindest der engere Verwandtenkreis namentlich bekannt.
    »Helga« merkte ich mir jedoch in dem Augenblick, als sie mit ihrer Sahne-Kirsch-Torte trotz meiner zurückhaltenden Begrüßung ins Haus stürmte und es sich sofort auf der Terrasse gemütlich machte. Ich hatte nicht mal Zeit, Einwände wie: »Ich fühle mich heute unwohl« oder: »Torte esse ich prinzipiell nur sonntags« geltend zu machen, als sie ohne Übergang anfing, aus ihrem Leben zu berichten.
    Oft hatte ich mich gefragt, wieso ich auf andere Menschen einen so vertrauenswürdigen Eindruck machte. Lag es an meiner rundlichen Erscheinung oder daran, dass ich immer höflich blieb und die Form wahrte, selbst wenn alles dafür sprach, einmal kräftig auf den Tisch zu hauen? Dabei wünschte ich mir manchmal, richtig böse zu sein, Leute wüst zu beleidigen und die Seitenspiegel der verkehrswidrig parkenden Geländewagen wortlos abzubrechen. Ich wollte nicht nur der Gute sein, der zuhörte und für alles großzügig Verständnis zeigte. Damals war es einfach noch zu früh für die Frechheiten, die ich mir heute in Abständen gerne einmal gönne.
    Seit jenem Tag kam Helga dreimal die Woche mit wechselnden Torten und schüttete mir ihr Herz aus. Ich musste hören, wie ihre Ehe zu kriseln begann, weil ihr Mann immer öfter auf Dienstreisen ging und abends gesellschaftliche Verpflichtungen hatte. Ich musste hören, wie ihr Sex zur Routinearbeit wurde und sie sich kaum noch etwas zu sagen hatten. Ich aß Kuchen und brummte mitfühlend, während ich mich fragte, ob ihr bewusst war, dass ich ein Mann war.
    Wenn Helga nicht kam, die Einkäufe erledigt waren und sonst nichts weiter anstand, das unbedingt hätte getan werden müssen, sah ich nachmittags gerne fern. Mit einer Schachtel Pralinen, die ich hinter dem Mülleimer in der Küche versteckt hatte, da ich offiziell auf Diät war, zu Juttas Erstaunen und meiner gespielten Verblüffung allerdings ohne den geringsten Erfolg, machte ich es mir auf dem Sofa gemütlich. Weich zwischen Kissen gebettet, die Pralinen griffbereit, sah ich am liebsten Katastrophenfilme. Bei Sturmfluten und verheerenden Erdbeben konnte ich derart mitfiebern, dass ich hinterher regelmäßig schweißgebadet war. Aber auch Abenteuer- und Kriegsfilme zählten zum Kreis meiner Favoriten. Ich war Harrison Ford im Jäger des verlorenen Schatzes , und in Vietnam kämpfte ich zu den Klängen von Wagner.
    Abends erzählte ich Jutta von meinen Fernseherlebnissen. »Wir können froh sein, in einem friedlichen Land ohne Erdbeben und Sturmfluten zu leben«, schloss ich meinen Bericht.
    Jutta senkte den Kopf und sah mich streng über ihre Lesebrille hinweg an.
    »Etwas mehr Aufregung könnte dir allerdings nicht schaden.«
    Ich hatte keine Ahnung, was sie mir damit sagen wollte.

3
    Manchmal wurde es jedoch wirklich aufregend. In diesen Momenten fühlte ich eine männliche Verwegenheit, die mir normalerweise nicht zur Verfügung stand.
    Hin und wieder blieb es nicht aus, dass ich trotz meiner Abneigung doch in den Supermarkt gehen musste. Wenn ich beispielsweise etwas Wichtiges vergessen hatte. An diesem Tag fehlte mir eine Chilischote, die für die geschmackliche Abrundung des toskanischen Brotsalats unabdingbar war. Ich eilte also an diesem frühen Abend in den Supermarkt am Roseneck. Die Chilischote war schnell gefunden. Doch anstatt gleich zur Kasse zu gehen, schlenderte ich durch die Regalreihen und blieb vor dem Tiefkühlschrank mit den Pizzas stehen. Plötzlich überfiel mich der Heißhunger auf eine fettige Pizza mit falschem Schinken und gummiartigem Käse. Es war mir ein Rätsel, woher diese seltsamen Wünsche kamen. Einmal verspürte ich den heftigen Drang zu tanzen, obwohl ich mein Leben lang jede übertriebene körperliche Bewegung abgelehnt hatte. Nach solchen Erlebnissen brauchte ich Tage, um mit mir wieder ins Reine zu kommen.
    Ich beschloss, rasch zurückzugehen, ehe noch mehr passierte, als ich zwei junge
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