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Wogen der Sehnsucht

Wogen der Sehnsucht

Titel: Wogen der Sehnsucht
Autoren: India Grey
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schob er noch eine Tür auf und blieb stehen, um sie zuerst durchzulassen. Lily trat hinaus, wandte sich langsam nach allen Seiten um und stieß dann ehrfürchtig die Luft aus.
    Von unten sah es so aus, als wäre der Turm mit seinen zerbrochenen, unebenen Steinwänden halb verfallen, aber jetzt konnte sie erkennen, dass das eine absichtliche Täuschung war. Die Plattform, auf der sie jetzt stand, war von glatten Steinfliesen bedeckt, und überall an der Innenseite der dicken Steinwände, die von außen so baufällig aussahen, befanden sich versteckte Simse, auf denen Vögel nisten konnten. Aber das beeindruckte sie gar nicht. Es war der Ausblick, der ihr den Atem nahm. Über den niedrigsten Teil der Mauer konnte sie im Dämmerlicht die Bäume sehen, die weit hinten am Ufer des Sees standen. Vorne am Turm war die Mauer höher, aber ein schmales Bogenfenster im gotischen Stil erlaubte einen Ausblick über den See auf die Gärten und das Schloss und die Felder dahinter, ohne dass man selbst gesehen werden konnte. Lily ging hinüber zu dem Fenster.
    „Das ist unglaublich. Ich dachte, das hier wäre eine Ruine, eine leere Hülle.“
    „Den Eindruck soll es auch machen“, erwiderte Tristan, der an der Tür stand. „Der Turm wurde von einem von Toms erfinderischen Vorfahren gebaut und sollte dekorativ, aber funktionslos wirken. Tatsächlich war es eine unglaublich geschickt getarnte Spielhölle. Das hier war der Ausguck für die Wache, sodass jeder, der sich näherte, gesehen wurde, bevor er auch nur die Chance hatte, seinen Fuß über die Schwelle zu setzen.“
    Er stieß sich vom Türrahmen ab, und während er langsam auf sie zukam, fühlte Lily sich plötzlich ganz leicht und atemlos. In dem diesigen Halbdunkel waren seine Augen dunkelblau und sein Gesicht ernst, und sie spürte wieder diese müde Verzweiflung, die sie schon vorher einmal kurz an ihm entdeckt hatte.
    Plötzlich war es ihr unmöglich, diesen unfassbar attraktiven Mann, der Traurigkeit wie einen unsichtbaren Umhang trug, mit dem genusssüchtigen Playboy in Einklang zu bringen, dessen freizügiger Lebensstil die Regenbogenpresse so faszinierte.
    „Sie haben recht.“
    Lily keuchte leise auf und fragte sich, ob er wohl soeben ihre Gedanken erraten hatte, doch dann hob er eine Hand und deutete auf einen Sims an der Wand hinter ihr.
    „Die verletzte Taube“, sagte er tonlos. „Sie ist hier.“
    „Oh …“ Sie runzelte die Stirn und hockte sich hin. Ihr langes Haar verdeckte dabei die Röte, die ihr in die Wangen geschossen war.
    Die Taube drückte sich ganz ans Ende des Nistplatzes. Ihr Flügel stand in einem merkwürdigen Winkel ab, und die Federn waren an der Stelle, wo der Flügel mit dem Körper verwachsen war, blutrot. „Armes Ding …“, lockte Lily leise. „Armes, armes Ding …“
    Tristan spürte, wie ihm unerwartet die Kehle eng wurde. In ihrer Stimme schwang eine Zärtlichkeit mit, die an seinen eisenharten Abwehrmauern vorbeidrängte und ihn direkt in sein geschundenes, verstörtes Herz traf.
    Normalerweise schlich er mit der Gewandtheit eines Straßenkaters zwischen seinen verschiedenen Leben hin und her und schlug die Tür zwischen den beiden Hälften seiner Welt immer fest hinter sich zu. Aber heute Abend – dios –, heute fiel es ihm schwer, das alles hinter sich zu lassen. Die lärmende Ausgelassenheit der Party brannte auf seinen angeschlagenen Nerven wie Salz auf einer offenen Wunde. Deshalb hatte er weggehen müssen. Aber das hier …
    Dieses sanfte Mitgefühl war fast schlimmer. Weil er ihm viel schwerer widerstehen konnte.
    „Ich glaube, ihr Flügel ist gebrochen“, sagte Lily leise. „Was können wir tun?“
    Tristan blickte hinüber auf den Rasen zu den funkelnden Lichtern des Festes. „Nichts“, sagte er und hörte die Härte in seiner Stimme. „Wenn das der Fall ist, dann wäre es das Beste, ihr Leiden schnell zu beenden und sie zu töten.“
    „Nein!“, widersprach Lily sofort leidenschaftlich. Sie stand auf, stellte sich zwischen ihn und die Taube, fast so, als habe sie Angst, dass er sich den Vogel greifen und ihm vor ihren Augen den Hals umdrehen könnte.
    „Das können Sie nicht. Das würden Sie …“
    „Warum nicht?“, sagte er brutal, als Bilder von dem Ort, an dem er noch vor Kurzem gewesen war, mit scharfer, greller Beharrlichkeit in seinem Kopf aufblitzten. Das war doch nur ein Vogel, meine Güte. Ein verletzter Vogel; es war schade, aber keine Tragödie. „Warum sein Leiden nicht
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