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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt
Autoren: Robert Pfaller
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aufrechterhalten werden muss, eines, das seinen mondänen Praktizierenden schmeichelt. Es kann auch vorkommen, dass sie sich dümmer, geschmackloser oder naiver stellen, als sie wirklich sind. Wenn ganze subkulturelle, künstlerische und intellektuelle
communities
sich in den 90 er Jahren versammelten, um keine Folge der doch wenig anspruchsvollen Fernsehserie »Beverly Hills 90   210 « zu versäumen (eine Praxis, die sogar einen eigenen Namen erhielt: das »Beven«), [12] dann spielten sie einem unsichtbaren Beobachter beträchtliche Naivität vor. Ihre Nicht-Naivität und ihre Zivilisiertheit jedoch liegt darin, dass sie diese Illusion aufrechterhalten, ohne sie jemals zu durchbrechen. Sie sind darin solidarisch, nicht zu verraten, dass sie die Serie für Kitsch halten, und tun so, als ob es sich um ein großartiges Werk handelte. Dadurch ermöglichen sie es sich, gegen alles Interesse ihrer gebildeten geschmacklichen Sinne zu genießen – ein Triumph der Überschreitung ihrer gewohnten Geschmacksregeln und -grenzen. In dem durch das Kollektiv gestärkten, vollen Bewusstsein ihres Spiels freuen sie sich diebisch dabei, gemeinsam einen virtuellen Beobachter hinters Licht zu führen, der glauben könnte, sie wären naiv und hätten einen genauso schlechten Geschmack und ein ebenso plumpes Gefühlsleben wie die Heldinnen und Helden der Serie. Wie in der Ästhetik des Erhabenen ist auch in den (ihr strukturanalogen) Ästhetiken des Kitsches und des sogenannten »Camp« [13] das kollektive Feiergebot die entscheidende Bedingung für die lustvolle Erfahrbarkeit des unguten Objekts.
    10 .
    Für eine allgemeine psychoanalytische Ästhetik zeigt sich hier eine grundlegende Dimension von Nichteigentum und
Alterität
, das heißt: von
Angewiesensein auf andere
: Die Individuen verfügen nicht über die Gesamtheit ihrer Lustbedingungen. So, wie zum Beispiel in einer kapitalistischen Produktionsweise die unmittelbaren Produzenten nicht über die Gesamtheit der notwendigen Produktionsmittel verfügen, haben auch auf dem Feld des Ästhetischen die Konsumierenden nicht alle Ressourcen zur Disposition, die sie zu ihrer Lust benötigen. Sie brauchen etwas, das sie nur von der Gesellschaft erhalten können – nämlich das Gebot, sich der Lust hinzugeben. Die Kultur wirkt hier nicht hemmend oder einschränkend als Verbot, gegenüber vermeintlich ungehemmten Begierden. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt. Die Individuen brauchen das kulturelle Gebot, um Zugang zu ihrer Lust zu finden. Gehemmt sind sie selber.
    Man sollte nicht vergessen, dass die sogenannte »symbolische Ordnung« im ursprünglichen, französischen (wie auch im englischen) Wortsinn nicht nur ein System gesellschaftlicher
Regeln
bezeichnet, sondern auch ein
Gebot
: »L’ordre symbolique« beziehungsweise »the symbolic order« ist nicht nur eine
Ordnung
, sondern auch eine
Anordnung
 – und zwar bezeichnenderweise eine Anordnung zur Überschreitung eben dieser Ordnung.
    Diese Anordnung bezeichnet dabei keineswegs eine »obszöne Kehrseite« der Ordnung, die aus maßlosem Genießen gebildet wäre. [14] Vielmehr handelt es sich um etwas, das mit Notwendigkeit selbst zur symbolischen Ordnung gehört – mit der Funktion, gerade den Exzess des Genießens zu vermeiden und ihn stattdessen in lustvolle Erfahrung zu verwandeln. Die symbolische Ordnung ist darum nur überhaupt dann eine solche, wenn sie sich selbst sozusagen verdoppelt und auch das Gebot zu ihrer Übertretung beinhaltet. Denn es ist die Anordnung zur Übertretung, welche die Ordnung davor bewahrt, selbst zu einem obszönen Exzess zu geraten. Dies bemerkt Epikur, wenn er schreibt: »Es gibt auch im kargen Leben ein Maßhalten. Wer dies nicht beachtet, erleidet Ähnliches wie derjenige, der in Maßlosigkeit verfällt.« (Epikur 1995 : 71 ). Auch die Mäßigung, die unser profanes Leben reguliert, kann zur Maßlosigkeit werden. Genau in dieser Situation leben wir gegenwärtig. Wir mäßigen uns maßlos. Wenn also die Mäßigung nicht verdoppelt wird; wenn man sie nicht, wie es konsequent ist, auch auf die Mäßigung selbst anwendet und sich also maßvoll mäßigt, gerät man in einen obszönen Exzess des Maßhaltens. Darum ist die Figur der Verdoppelung der symbolischen Ordnung in die beiden Seiten von
Ordnung
einerseits und
Anordnung zur Überschreitung
andererseits entscheidend dafür, dass es überhaupt eine symbolische Ordnung gibt – wenigstens eine, die ihren Namen verdient, weil sie die
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