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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt
Autoren: Robert Pfaller
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zentrale Funktion erfüllt, welche die Psychoanalyse ihr zuerkannt hat: nämlich dem Lustprinzip zu dienen. [15]
    11 .
    Ein anschauliches Beispiel für dieses Überschreitungsgebot der symbolischen Ordnung hat der Schriftsteller Dario Fo einmal in einer Fernsehdokumentation über die Kultur Italiens vorgeführt. Er erklärte, dass italienische Frauen den öffentlichen Raum gern als eine Art Bühne benützen und eine entsprechende Form des glanzvollen Auftretens dafür entwickelt haben. Somit sei es dort nicht – wie es in manchen puritanischeren Kulturen empfunden wird – unhöflich, die Frauen zu betrachten, sondern im Gegenteil: Es werde von den Frauen selbst als äußerst unhöflich empfunden, wenn man ihre Bemühungen keines Blickes würdigt. Wenn er als kleiner Junge, so Fo, an der Hand seiner Mutter auf der Straße ging, dann sei es darum vorgekommen, dass die Mutter zu ihm sagte: »Bohr’ nicht in der Nase! Schau dir die Frauen an!«
    Das Gebot der Mutter riss den kleinen Dario offenbar aus seinem Narzissmus, durchbrach seine autoerotische Borniertheit und ermöglichte ihm einen Weg zum Objekt. Zugleich befahl das Gebot die Inszenierung einer Illusion, die nicht die seine war. Es besagte: »Benimm dich gefälligst so, als ob du schon ein Erwachsener wärst!« Eine ganze, im Narzissmus gefangene Gegenwartskultur kann sich heute den kleinen Dario zum Vorbild nehmen. Sie könnte von ihm lernen, die Gebote der Kultur nicht als heteronome Zumutungen abzulehnen, sondern als Lustressourcen zu nutzen. Dann würde es ihr, ähnlich wie ihm, gelingen, ihren Narzissmus zu verlassen, sich auch Lustmöglichkeiten gefallen zu lassen, die sie nicht unmittelbar als dem eigenen Ich konform wahrnimmt, und dadurch jene notwendigen Überschreitungen zu begehen, für die es sich zu leben lohnt.

2 . Was uns das vergessen lässt
    1 .
    In einer neoliberalen Gesellschaft, in der alles, wofür es sich zu leben lohnt, zum Objekt aggressiver Aneignungsversuche durch exklusive Minderheiten wird, sind naheliegenderweise auch die kollektiven Genussressourcen Objekte solcher asozialer Begierde. Es wäre aber wohl unmöglich, sie der breiten Mehrheit einfach gewaltsam zu entziehen. Wie die meisten übrigen Beraubungen muss auch diese listig bewerkstelligt werden – das heißt: so, dass die Beraubten ihre Beraubung nicht als solche, sondern vielmehr sogar als ihre Befreiung wahrnehmen. Dann sind sie nicht nur bereit, sie hinzunehmen, sondern setzen sich sogar noch aktiv für sie ein. An diesem Punkt werden die rechten Oberschichtsinteressen der Privatisierung gestützt von scheinbar linken – oder wenigstens sich selbst als emanzipatorisch begreifenden mittelständischen Ideologien. Diese Allianz ist bezeichnend für fast alle Erscheinungsformen neoliberaler Ökonomie: Alle diese elitären materialistischen Inbesitznahmen gesellschaftlicher Bestände sind zu ihrer Durchsetzung angewiesen auf die Beihilfe einer vermeintlich auf Gerechtigkeit ausgerichteten, idealistischen postmodernen Ideologie. [16]
    Eine Form solcher List besteht nun darin, die Gebote des Feierns nicht als Lustressourcen, sondern vielmehr als heteronome Zumutungen zu charakterisieren. Die Individuen würden sich, wenn sie sich solchen Imperativen anvertrauten, doch nur von ihrem Eigensten entfernen. Sie rezipierten dann zum Beispiel nicht die Kunst ihrer identitären Gemeinschaft, sondern eine fremdere, gesellschaftlich anerkannte, von der vorherrschenden Gruppe geprägte. Sie wären in solchen Momenten nicht authentisch, sondern spielten eine nicht von ihnen selbst gewählte Rolle, zur Freude und zum Nutzen für jemand anderen – zum Beispiel machten sich die Frauen nur für die Männer schön; oder die jungen Leute benähmen sich nur für die älteren manierlich etc. Sie alle folgten dann nicht ihren eigenen, spontanen Impulsen, sondern vielmehr einem fremden Befehl zu angepasstem Benehmen. Mit dem postmodernen Hip-Hop-Refrain »Be Yourself« bringt die neoliberale Interessenslage die zu beraubenden Individuen dazu, alles Ichfremde an sich selbst abzulehnen und ihre Lustressourcen abzustoßen.
    2 .
    Wer immer ihnen das Lustprinzip in der Kultur nahebringt und sie damit zu geteilter Lust einlädt, wird von ihnen nun fälschlich als despotischer, obszöner »Urvater« wahrgenommen, der völlig eigennützig und auf ihre Kosten genieße. [17] Jeder Universitätslehrer, der ihnen von Weltliteratur erzählt, wird als Agent einer überkommenen eurozentrischen, weißen,
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