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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt
Autoren: Robert Pfaller
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heterosexuellen Matrix perhorresziert. Jede Raucherin, die ihnen durch elegantes Benehmen angenehm und, indem sie ihnen vielleicht eine Zigarette anbietet, großzügig sein möchte, erscheint ihnen als gewalttätige Imperialistin eines obszönen Genießens, die ihre private Obsession in der Öffentlichkeit ausbreitet und damit nicht allein die Gesundheit der anderen bedroht, sondern auch deren seelische Reinheit und Lust-Autonomie, das heißt: deren narzisstische Integrität. Mit anderen Worten – sie scheint diejenige zu sein, die nun phallisch und urvaterhaft ihnen ihr (ansonsten als problemlos möglich imaginiertes) Genießen unterbindet. Der gesellige Altruismus mutet als rücksichtsloser Egoismus an; die weltläufige Überwindung von Intimität als Vergewaltigung durch fremde Intimität. Gerade das Angebot von Zivilisiertheit erscheint als ultimative, brutale Barbarei.
    3 .
    Aus psychoanalytischer Sicht besteht diese Fehlwahrnehmung darin, dass
anonyme Einbildung
als die
eigene Einbildung
des Anderen aufgefasst wird: Das zivilisierte »als ob«, die Ausrichtung des Schauspiels auf den virtuellen naiven Beobachter, erscheint als selbstbezogene narzisstische Passion des Anderen, als volles Aufgehen in purer eigener Einbildung. [18] Gerade das, was die Loslösung vom Narzissmus repräsentiert, wird hier als dessen Inbegriff wahrgenommen – und als Vereitelung von jeglicher Möglichkeit der Loslösung. Diese Angst vor dem Genießen des Anderen beschäftigt im Moment eine erstaunliche Zahl von Menschen – mehr als die Suche nach ihrem eigenen Glück. Diese Angst kann wohl als die vorherrschende Form postmoderner Affektorganisation bezeichnet werden. Dies lässt es notwendig erscheinen, einige Überlegungen über den klassischen Namen dieser Angst, den Neid, anzustellen (s. dazu unten, Abschnitt 2 in diesem Band).
    Darüber hinaus zeigt dieses Phänomen eine aufschlussreiche Abfolge von Einbildungen: Zunächst erscheint das zivilisierte »als ob« der anonymen Einbildung – etwa in Form höflichen Verhaltens, eleganten Auftretens oder kultivierten Gebrauchs einfacher Genussmittel. Im nächsten Schritt wird diese anonyme Einbildung, wie gesagt, einer Fehlwahrnehmung unterzogen; sie wird als eigene Einbildung des Anderen gedeutet, wodurch man diesem Anderen ein ungeteiltes, volles Genießen unterstellt. Aber diese Fehldeutung sieht nicht nur etwas Eingebildetes beim Anderen; sie ist auch selbst etwas, und zwar sogar etwas Wirkliches: eine Angst, eine Panik, eine zu hastigem Agieren treibende Besessenheit. Wir möchten für sie die Bezeichnung »paranoische Einbildung« vorschlagen. Die Fehlwahrnehmung
anonymer Einbildung
führt also zum Trugbild
eigener Einbildung beim Anderen
, und zur
Paranoia
bei den Wahrnehmenden selbst. Die paranoische Einbildung aufseiten der Massen begünstigt die charakteristischen, ständig unter dem Vorzeichen der Dringlichkeit auftretenden Sofortmaßnahmen aktueller Pseudopolitik.
    4 .
    Politisch handelt es sich bei dieser Struktur gesellschaftlicher Affektorganisation um
negative Hegemonie
. [19] Es verhält sich genau umgekehrt zu den Fällen klassischer, »positiver« Hegemonie, wie Antonio Gramsci sie vor Augen hatte: Dort brachte eine herrschende Klasse alle übrigen auf ihre Seite, indem sie
ihre partikularen Interessen als allgemeine Interessen der Gesellschaft
darstellte (zum Beispiel den Imperialismus, von dem nur die Bourgeoisie profitierte, als nationale Angelegenheit). Heute ist es, wie gesagt, genau umgekehrt: Es ist den Profiteuren der aktuellen Umverteilungen gelungen,
die allgemeinen Interessen der Gesellschaft als bloße Partikularinteressen der herrschenden Klassen
darzustellen (z.B. Menschenrechte, Bildung, Zivilisiertheit etc. als bloß weiße, europäische, männliche, bürgerliche Angelegenheiten). Dadurch haben sie alle übrigen Klassen dazu gebracht, von sich aus, spontan und mit dem Gefühl der Befreiung von Heteronomie, davon Abstand zu nehmen und auf die Beute der gesellschaftlichen Kämpfe zu verzichten.
    5 .
    Damit alles Allgemeine, woran die Individuen neoliberaler Gesellschaften teilhaben könnten, von ihnen als fremdes Besonderes wahrgenommen wird, und damit alles, was sie selbst haben wollen, nur ihr Eigenes ist und nichts sonst, hat die postmoderne Ideologie einen besonderen, neuartigen Typ von »Anrufung« entwickelt: Sie lädt sie nicht ein zur Veränderung, zur Identifizierung mit einem neuen symbolischen Mandat (à la »Sei auch Du ein/e
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