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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt
Autoren: Robert Pfaller
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Ländern Europas in so großer Zahl zur Wehr setzen, weil sie so gut wie alles zerstört, was die Qualität eines Studiums ausmacht – nämlich die Gleichheit aller Studierenden; die Möglichkeit, von Anfang an nicht nur sogenannte »basics« zu erlernen; die Möglichkeit, mit Studierenden höherer Semester in Austausch zu treten; die Freiheit, eigene Interessen auszubilden und zu verfolgen; die Verbindung von Forschung und Lehre; dass auch diese Reform von einer neoliberalen Politik, die eine gesellschaftliche Ressource privatisieren will, von Anfang an im Namen angeblich Schwacher durchgeführt wurde: nämlich im Namen der Studierenden aus den sogenannten »bildungsfernen Schichten«, die angeblich von so viel Freiheit an der Universität überfordert wären und denen man darum zu ihrem eigenen Besten alles vorenthalten muss, was den Aufenthalt an einer Universität lohnend – und das dort erworbene Wissen gesellschaftlich nützlich – macht. Klarerweise hat man diese angeblich bildungsfernen Schwachen gerade durch alle in ihrem Namen getroffenen Maßnahmen letztlich jeglicher Möglichkeit beraubt, an der Universität so etwas wie universitäre Bildung jemals auch nur kennenzulernen.
    Dabei ist es übrigens keineswegs sicher, dass es diese Schwachen in dieser Form überhaupt gibt; d.h. ob nicht auch die bildungsfernsten Studierenden durchaus ein bestimmtes Maß an Neugier und Ansprechbarkeit mitbringen, auf dem man aufbauen könnte, anstatt ihnen alles nur stumpf vorzuschreiben. Ja, erst wenn man Letzteres macht und sie damit wie Idioten behandelt, fangen manche vielleicht – unter den psychoanalytisch bekannten Bedingungen der Gegenübertragung – an, sich auch tatsächlich so zu verhalten.
    10 .
    Mit hellsichtigem Zorn aber haben die streikenden Studierenden und Lehrenden des Herbstes 2009 diese Verdrehung entlarvt und gezeigt, dass sie nicht zu allem gezwungen werden möchten. Und wenn man die Lehre, die aus ihrer Klarstellung zu ziehen ist, auf ein allgemeines Prinzip bringen kann, dann ist dies eine Abwandlung von Hannah Arendts großartigem Satz
»Kein Mensch hat […] das Recht zu gehorchen«
. [24] In seiner auf die neoliberalen Beraubungen bezogenen Variante lautet dieser Satz heute:
Niemand hat das Recht, ein kompletter Idiot zu sein. Und keine Politik hat das Recht, ihn als solchen zu behandeln.
Denn niemand besteht nur aus der eigenen, idiotischen Identität und aus nichts sonst. Alle sind fähig, sich selbst nicht nur aus ihrem eigenen, sondern auch aus dem mondänen Blickwinkel der Welt zu betrachten und sich dementsprechend zu verhalten; das heißt: ein elegantes, theatralisches »als ob« zu entwickeln. Von jedem und von jeder darf etwas erwartet werden. Eine Politik, die sich emanzipatorisch gibt, indem sie im Namen des kompletten Idioten oder des grenzenlos Schwachen agiert, muss darum als Beraubungsversuch an der Gesellschaft betrachtet werden – und als Ausdruck infamster Verachtung derjenigen, in deren Namen sie zu sprechen behauptet.
    Aus psychoanalytischer Sicht verrät diese Politik ihre spezifische autoritäre Natur durch die – für das tyrannische Über-Ich charakteristische – Unfähigkeit, bestimmte Ansprüche zu relativieren und zu mäßigen. Wenn sie wie in paranoischem Wahn plötzlich nur noch »die bildungsfernen Schwachen« oder »die Gesundheit« oder »die Sicherheit« oder »den europäischen Hochschulraum« und dessen »Wettbewerbsfähigkeit« in ihrem verengten Blick hat und alle anderen Fragen vernachlässigt, um ein Agieren in Form hastiger, unüberlegter Reform-, Säuberungs- und Sofortmaßnahmen zu beginnen, dann demonstriert sie ihre Abhängigkeit von einer psychischen Instanz, die kein vernünftiges Abwägen und keine relativierende Anbindung an Bedingungen duldet.
    Genau wie in der individuellen psychoanalytischen Klinik muss darum auch auf der Ebene des gesellschaftlichen Imaginären der Versuch unternommen werden, das infantile, humorlos-tyrannische Über-Ich aus seiner Besessenheit zu lösen und es mit Hilfe eines reifen, humorvollen Über-Ich zu beruhigen und zu mäßigen: das heißt, mit Hilfe jener Instanz, die imstande ist, jene Fragen zu stellen, die erwachsenen Menschen angemessen sind. [25] Dazu gehört zum Beispiel die Frage,
ob ein so europäisch standardisiertes, gesundes, sicheres und kostengünstiges Leben
, wie es die aktuelle Politik so emsig fabrizieren will,
sich denn überhaupt zu leben lohnt
.
    11 .
    Diese Frage nach dem guten
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