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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt
Autoren: Robert Pfaller
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zu lassen.) [37]
    Interessant und lehrreich für die Kultur der Gegenwart erscheint vielmehr die praktische Funktion, die dieses Gedankenexperiment zu erfüllen vermag. Es ist ein typischer philosophischer »Entkräftungsgedanke« – ein Instrument für eine gedankliche Operation, die einen davor schützen kann, sich automatisch der Macht einer Illusion zu unterwerfen, einem Schein von Unausweichlichkeit aufzusitzen und in paranoische Blickverengung und blindes Agieren zu verfallen. Es gibt verschiedene Gedanken, die diese Art von Entkräftungsfunktion erfüllen. Man kann sich zum Beispiel auch sagen, dass Gott so furchtbar ist, dass, verglichen mit seinem Schrecken, jede andere Furcht, die einen bedrängen mag, sich sofort lächerlich ausnimmt. [38] Oder man erinnert sich an die blinde, absichtslose Notwendigkeit, die allen Vorgängen innewohnt. [39] So bemerkt Alain: »Schließlich läßt sich Bauchweh leichter ertragen als ein Verrat. Sagt man nicht besser, es fehle einem an Blutkörperchen, als es fehle einem an wahren Freunden?« (Alain 1982 : 13 f.)
    Oder man vergegenwärtigt sich die notwendige Verblendung desjenigen, der einem geschadet hat, um sich vom maßlosen Zorn auf ihn zu befreien: »Es schien ihm eben richtig so«, pflegte Epiktet sich in einem solchen Moment zu sagen. [40] Dieselbe Funktion erfüllen auch Denkfiguren des Zweifels – »skeptische Tropen« wie die Formel »Was weiß ich?« (»Que scay-je?«), die Montaigne zu seinem Motto erhob. Wo etwas zur fixen Idee zu werden und in Besessenheit auszuarten drohte, konnte der Philosoph sich, indem er sich selbst an diese Frage erinnerte, wieder Seelenruhe verschaffen.
    Genau das ist die Bedeutung, die wir der Frage, wofür es sich zu leben lohnt, geben möchten. Wir stellen diese Frage nicht nur, weil es notwendig scheint, an die – wie gesagt relativ einfachen – Antworten zu erinnern, die darauf gegeben werden können. Sondern vor allem auch deshalb, weil diese Frage sich ausgezeichnet als Entkräftungsgedanke eignet – und zwar gegenüber den in der Gegenwart dominierenden Ideologien. Ihnen gegenüber erscheint es ratsam, sich im Stellen dieser Frage zu üben.
    »Wofür lohnt es sich zu leben?« – Im Gegensatz zu Kants gedanklicher Erprobung am Tod ist diese Frage eine Probe auf das Leben. Sie relativiert und mäßigt nicht die Anhänglichkeit ans Leben, sondern den – wie Brecht betonte [41] und wie alle heutige Erfahrung lehrt – nicht minder verführerischen Hass auf dieses Leben. Überall dort, wo dieser Hass auf das Leben sich in den atemlosen Besessenheiten der Gesundheit, der Sicherheit, der Korrektheit etc. ausdrückt, kann man sich durch das Stellen dieser Frage etwas Luft, Ruhe und Besonnenheit verschaffen. Aus dieser Besonnenheit aber kann hellsichtiges Handeln entspringen. Nicht viele der Zumutungen, mit denen eine neoliberale Ökonomie die Menschen elementarer Lebensqualitäten beraubt, werden noch hingenommen werden, und nicht viele der Dummheiten, mit denen eine postmoderne Ideologie diesen Beraubungen Akzeptanz verschafft, werden noch geduldet werden, wenn es uns gelingen sollte, uns wieder daran zu gewöhnen, diese Frage zu stellen.

1 . Abschnitt: Beweggründe und Tricks der Glücksfurcht
    3 . Die Dürftigkeit und das Grelle
Über die Rolle des pornographischen Pop
in einer prüden Kultur
    Es ist nicht ganz unkomisch zu beobachten, wie sehr die westliche Gegenwartskultur, die sich selbst doch gern als besonders aufgeklärt und postmodern-lustbezogen versteht, seit Beginn der 90 er Jahre in eine Tendenz zu Lustfeindlichkeit und Prüderie verfällt: Immer mehr Leute ekeln sich »spontan« vor Sexualität oder Tabakkultur, wenn nicht gar vor den Eigenheiten ihres Körpers; den meisten Genüssen ist der Zahn gezogen, so dass wir (wie Slavoj Žižek bemerkt hat) Schlagsahne vorzugsweise ohne Fett, Bier ohne Alkohol, Kaffee ohne Koffein, Sex ohne Körper etc. serviert bekommen; und ganz wie das iranische Fernsehen überträgt auch so manche westliche Anstalt seit der sogenannten
nipplegate
-Affäre der Sängerin Janet Jackson Sportveranstaltungen nur noch mit einigen Sekunden Zeitverzögerung, damit nur ja keine unvorhergesehene Nacktheit auftaucht. (Und Letzteres erscheint nicht einmal denjenigen als auffällige und bedenkliche Parallele, die sich sonst gern in der Rede von einem unüberbrückbaren Gegensatz der Kulturen, einem »clash of civilizations« gefallen.)
    Dem gegenüber hat Paul-Philipp Hanske jedoch vor
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