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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt
Autoren: Robert Pfaller
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der Sinne« gerichtetes Wohlgefallen (s. Kant [ 1790 ]: 193 ).
    3 .
    Nun kann man wohl ohne große Übertreibung feststellen, dass wir diese Art von Genüssen, in denen etwas Ungutes zur Quelle triumphaler Lust wird, nicht nur längst kennen, sondern
dass sie für uns sogar die Gesamtheit dessen bilden, wofür es sich überhaupt zu leben lohnt
. Ohne die Verrücktheiten der Liebe, die uns gerade die sperrigen Eigenschaften geliebter Personen anbeten lässt; ohne die Unappetitlichkeiten und Schamlosigkeiten der Sexualität; ohne die Unvernunft unserer Ausgelassenheiten, Großzügigkeiten, Verschwendungen, unserer Geschenke, Feierlichkeiten, Heiterkeiten und Rauschzustände wäre unser Leben eine abgeschmackte Abfolge von Bedürfnissen und – bestenfalls – ihrer stumpfen Befriedigung; eine vorhersehbare, geistlose Angelegenheit ohne jegliche Höhepunkte, die insofern mehr Ähnlichkeit mit dem Tod hätte als mit allem, was den Namen des Lebens verdient.
    Zugleich lässt sich sagen, dass diese auf einem unguten Element basierende Lust diejenige ist, die als kulturelle Lust bezeichnet werden kann, wohingegen alle einfache, ohne jedes Negativelement gebildete Lust (etwa dass wir froh sind, wenn wir Licht, Wärme, Ruhe oder Windstille haben) wohl unserer Tiernatur geschuldet ist.
    4 .
    Der Beleuchtungswechsel in unserer Kultur, der uns unsere besten Genüsse zu unseren Ärgernissen werden ließ, bedeutet also nicht weniger, als dass wir es innerhalb kurzer Zeit verlernt haben, dasjenige zu schätzen und zu würdigen, wofür es sich zu leben lohnt. Schlimmer noch, wir haben offenbar verlernt, auch nur die Frage danach zu stellen. Statt zu fragen, wofür wir leben, fragen wir uns nur noch, wie wir möglichst lange leben beziehungsweise überleben können – gemäß nunmehr völlig fraglos verabsolutierten Prinzipien wie Gesundheit, Sicherheit, Nachhaltigkeit und – vor allem – Kosteneffizienz. Dies ist nicht allein ein Stück Torheit – gemäß den Worten des Epikur, wonach der Weise niemals das größte Brot wähle, sondern immer das süßeste (s. Epikur 1995 : 52 f.). Wir begehen damit vielmehr genau das, was in den Augen des römischen Satirikers und stoischen Philosophen Juvenal die schlimmste ethische Verfehlung darstellte. Er schrieb:
»Betrachte es als den größten Frevel, das nackte Leben höher zu stellen als die Scham; und um des Lebens willen die Gründe, für die es sich zu leben lohnt, zu verlieren.« [3]
    5 .
    Die dem religiösen Leben entstammende Wortwahl bei Juvenal – der Gebrauch des Begriffs »Frevel« (nefas) – mag auf den ersten Blick erstaunen. Sie erscheint jedoch theoretisch äußerst präzise und hellsichtig. Denn auf diesem Weg lässt sich erklären, wieso das Ungute in bestimmten Kulturperioden als Erhabenes erlebt werden konnte, während es in anderen nur schlichtweg ungut anmutet.
    Dasjenige, was in vielen Kulturen als etwas Zwiespältiges – manchmal Großartiges, Glänzendes, manchmal Abstoßendes, Unreines – wahrgenommen wurde, ist das Heilige. Wie der Sprachwissenschaftler Émile Benveniste gezeigt hat, gibt es in den meisten indogermanischen Sprachen dafür sogar zwei verschiedene Worte, die diese beiden Seiten bezeichnen (wie z.B. lateinisch »sanctus« und »sacer«, altgriech. »hosios« und »hagios«, französ. »sacré« und »saint«, engl. »sacred« und »saint« etc.). [4] Auffälligerweise bezeichnen diese beiden Worte aber nicht zwei verschiedene Klassen von Objekten – sondern viel eher zwei verschiedene »Beleuchtungen« jeweils ein und desselben Objekts. Dementsprechend bemerkte der Religionssoziologe Émile Durkheim:
    »Es gibt zwei Arten des Heiligen, die eine ist den Menschen zugeneigt, die andere nicht. Und zwischen diesen beiden entgegengesetzten Formen gibt es nicht nur keinen Bruch; ein und dasselbe Objekt kann sich vielmehr von sich aus in die andere verwandeln, ohne seine Natur zu verändern. Aus dem Reinen kann man Unreines machen; und umgekehrt. In der Möglichkeit dieser Umwandlungen besteht die Zweideutigkeit des Heiligen.« (Durkheim 1994 : 551 ).
    Auf der Ebene heutiger Alltagskultur lässt sich diese Zwiespältigkeit sehr deutlich an scheinbar einfachen Objekten erfahren: Das Glas Bier, das ich abends in der Gesellschaft meiner Freunde trinke, erscheint mir als großartiger Genuss – als Beweis, dass es sich zu leben lohnt. Am nächsten Morgen aber würde mir das Bier, zum Frühstück angeboten, wohl eklig erscheinen; vielleicht
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