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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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blickte wieder zu mir. An ihm war nichts Freundliches.
    Ich erkannte das Husten des Jungen, als ich durch die Lobby des Hotels zum Aufzug ging, und blieb stehen. Er kniete an einem der niederen Tische auf der Empore über dem Empfang, zählte etwas an den Fingern ab und schrieb das Ergebnis in ein Heft. Eine Frau, die seine Mutter sein musste, saß neben ihm in einem Sessel. Sie schien nicht zu beachten, was er tat, dann berührte sie ihn an der Schulter und gab ein gackerndes Geräusch von sich. Der Junge schlug sich vor die Stirn. Das Ende seines Kugelschreibers leuchtete rot auf, schrieb er, der Schimmer des Lämpchens reflektierte in seinen Augen. Der Junge drehte mir sein Gesicht zu und sah mich an mit dem leblosen Ausdruck einer Puppe. Als auch seine Mutter zu mir blickte, wandte ich mich ab und ging zum Lift.
    Mein Vater sagt: Niemand weiß, wie die Hecke wächst.
    Sein Blick ist auf mich gerichtet, der blaue Brief liegt vor ihm auf dem Tisch, seine fleckige Kaffeetasse steht daneben. Ich sage: Ich hab die Limo nicht im Lehrerklo versprüht – ich bin nicht den Mädchen hinterher!
    Er überlegt lange und fragt: Weißt du, wer’s war?
    Ich nicke und sage: Ich wollte nicht petzen.
    Er liest sich den Brief nochmals durch, zerreißt ihn und fragt: Wie kommen die auf dich?
    Am nächsten Tag fährt er mich zur Schule, gemeinsam gehen wir über den Hof und in das Gebäude, die Marmorstufen sind feucht und rutschig, und zum Büro des Rektors. Ich schließe die Augen, als er an der Tür des Vorzimmers klopft.
    Aber er ist doch mein Freund, sage ich.
    Auf solche Freunde kannst du verzichten, sagt er.
    In einer Nacht, in der die Sirenen der Streifenwagen unablässig heulten, die Klimaanlage den Sirup aus abgestandener Luft durchs Zimmer wälzte und es still blieb auf dem Flur – der Junge schien keinen Anfall bekommen zu haben oder abgereist zu sein mit seiner Familie –, griff ich den Hörer vom Telefonapparat und rief in unserem Apartment an. Maria nahm ab nach dem zweiten Klingeln, ich hörte sie atmen und schmatzen, als habe sie einen trockenen Mund, dann sagte sie: Ich hab es wegmachen lassen.
    Wann? fragte ich.
    Das geht dich nichts an, sagte sie.
    Ich glaub dir nicht, sagte ich.
    Das musst du nicht, sagte sie.
    Hast du meine Nachricht gefunden? fragte ich.
    Sie lachte.
    Den Zettel? fragte sie und lachte wieder.
    Und wenn ich zurückkomme? sagte ich.
    Sie schwieg.
    Lass das, sagte sie.
    Du hast es nicht wegmachen lassen, sagte ich.
    Wo bist du? fragte sie.
    Ich schwieg, während das Heulen einer Sirene durchs Fenster drang, die näher kam und sich wieder entfernte.
    Du hast die Stadt nicht verlassen, sagte sie.
    Hatte ich dir geschrieben, sagte ich.
    Ich hab dir nicht geglaubt, sagte sie: ich dachte, du bist zu deinem Vater.
    Hast du es wirklich wegmachen lassen? fragte ich.
    Sie schwieg, bevor sie sagte: Ja, hab ich.
    Ich glaub dir nicht, sagte ich.
    Musst du nicht, sagte sie.
    Wir sprachen nicht weiter, legten aber auch nicht auf. Ich hörte unser Apartment, die kleine Klingel an der Tür des Schnapsladens gegenüber, das Geschrei der Football-Kommentatoren aus dem Fernseher des Nachbarn aus dem Erdgeschoss, das unhörbare Summen der über Putz verlegten Stromleitungen, die anspringende Umwälzpumpe des Kühlschranks, die Boeings und Airbusse beim Start und Landeanflug, Marias Atem über und in allem. Nach einer Ewigkeit beendete die Rezeption des Hotels die Verbindung, eine Frauenstimme fragte: Everything alright, Sir?
    Geht schon, sagte ich und legte auf.
    Ich traf den hustenden Jungen auf unserer Etage neben dem Aufzug. In der Faust hielt er ein paar Dollarscheine, er sah mich von unten herauf an und steckte das Geld in die Tasche.
    Hi, sagte ich.
    Hello, Sir, sagte er.
    Der Knopf, um den Aufzug zu rufen, leuchtete nicht. Ich drückte ihn, nichts passierte.
    I think the lift is stuck, sagte der Junge.
    Ich sah aus dem Fenster am Ende des Ganges. In der Entfernung konnte man die betonierte Einfassung des Los Angeles River erkennen, der mehr ein Rinnsal war als ein Fluss, den gasig gelben Himmel über dem Osten der Stadt, das knochentrockene Unglück einer Wüste voller Menschen, die einen Traum haben, aber keine Chance. Dreizehn Stockwerke, dachte ich und sagte: We’ll have to take the steps.
    Der Junge nickte und holte Luft, als wolle er seinen kleinen Rekord im Tauchen brechen, sein spitzer Brustkorb hob und senkte sich zitternd beim Ausatmen. Er nickte, und wir wandten uns dem hell erleuchteten
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