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Wo ich zu Hause bin

Wo ich zu Hause bin

Titel: Wo ich zu Hause bin
Autoren: Anselm Gruen
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das Reich Gottes wirklich gekommen ist, die Tatsache, dass Juden und Heiden, dass Männer und Frauen, Arme und Reiche, Junge und Alte miteinander eine Gemeinschaft in Jesus Christus bildeten. Lukas schreibt von der Urgemeinde in Jerusalem: »Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele« (Apostelgeschichte 4,32). Mag das auch idealisierend gemeint sein, offensichtlich hatte die frühe Kirche eine faszinierende Ausstrahlung auf die Menschen. Auch Paulus hat das ja in Korinth erfahren, wo die Menschen der verschiedensten Herkunft und unterschiedlicher sozialer Stände miteinander eine Einheit bildeten, auch wenn diese Einheit immer wieder gefährdet war. So schreibt er voller Begeisterung: »Es gibtnicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ›einer‹ in Christus Jesus« (Galaterbrief 3,28).
    Die Kirche kennt viele Rituale, gemeinsame Rituale und Rituale für den Einzelnen. Eine Aufgabe der Rituale ist es, Heimat zu schaffen. Das gilt einmal für die persönlichen Rituale. Meine Mutter, die mit 91 Jahren gestorben ist, hatte die letzten 25 Jahre ihres Lebens nur drei Prozent Sehkraft. Doch sie hat nie gejammert. Sie hat immer ihr Leben gelebt, in innerer Zufriedenheit und Dankbarkeit. Sie hat ihren Tag und ihre Woche mit den immer gleichen Ritualen geprägt: Sie ist morgens um sieben Uhr aufgestanden, ist um acht Uhr in die heilige Messe gegangen, hat sich dann Frühstück gemacht, sich auf das Sofa gelegt und zwei Rosenkränze für ihre Kinder und Enkelkinder gebetet, dann hat sie sich Kassetten vom Blindenbund angehört, sich schließlich das Mittagessen gekocht und anschließend zum Mittagsschlaf hingelegt. Auch der Nachmittag und Abend waren von festen Ritualen geprägt. Das hat ihr das Gefühl von Heimat gegeben. Sie war in ihrem Leben daheim. Sie hatte das Gefühl, selbst zu leben, in diesem festen Rhythmus des Lebens daheim zu sein. Und sie hat in diesen Ritualen auch die Verbundenheit mit ihren Eltern und Geschwistern erlebt, die schon vor ihr gestorben sind. Die Rituale geben uns Anteil an der Glaubensund Lebenskraft unserer Vorfahren. Sie bringen uns in Berührung mit den Wurzeln, die unser Leben nähren. Viele, die keine Heimat mehr haben, sind heute zugleich wurzellos geworden. Eine der vielen Ursachenvon Depression ist auch die Wurzellosigkeit. Wenn ich keine Wurzeln habe, wird mein Lebensbaum leicht vertrocknen. Sobald mich Probleme von außen betreffen, reagiere ich hilflos und depressiv. Ich habe nichts dagegenzusetzen. Die Rituale bringen mich in Berührung mit der Glaubenskraft, mit der meine Vorfahren ihr Leben bewältigt haben. Auch ihr Leben war nicht immer einfach. Sie sind durch Kriege, Krankheiten, Nöte und Armut hindurchgegangen und haben ihr Leben trotzdem aus dem Glauben heraus gemeistert.
    Die Erfahrung von Heimat schaffen auch die kirchlichen Rituale. Viele, die von der Heimat schwärmen, erzählen immer wieder von den gleichen Ritualen, von der Art und Weise, wie man in der Heimat Advent und Weihnachten gefeiert hat, wie man die Fastenzeit gelebt hat, von den Kreuzwegandachten, von der Osterfeier, von den Maiandachten und von der Fronleichnamsprozession, vom Blasiussegen und vom Segen der Kräuterbüschel an Mariä Himmelfahrt. Es ist nicht einfach nur das alte Brauchtum, das da gepriesen wird. Die Menschen haben den Eindruck, dass ihnen diese Rituale Halt gegeben und Heimat vermittelt haben. Das gilt auch für die Kirche von heute. In den Ritualen, die sie seit Jahrhunderten feiert, gibt sie den Menschen das Gefühl von Heimat. Sie schenkt ihnen Anteil an den Glaubenswurzeln ihrer Vorfahren. Das Bedürfnis vieler Gläubiger, an den alten Ritualen wie Blasiussegen oder Haussegen, wie Maiandacht oder Fronleichnamsprozession teilzunehmen, darf nicht einfach als konservativ abgetan werden. Natürlich können wir auch nichtnur die alten Rituale wiederholen. Dann würde die Kirche zu einem Relikt werden, das in unserer modernen Welt übrig geblieben ist, aber keine Gestaltungskraft mehr hat. Die Weisheit der Kirche besteht vielmehr darin, mitten in der modernen Welt die alten Rituale so zu feiern, dass sie die Menschen mit ihren Wurzeln in Berührung bringen, dass die Menschen darin aber auch ihre heutigen Bedürfnisse und Sehnsüchte und Anliegen zum Ausdruck bringen können.
    Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Menschen heute durchaus offen sind für die alten Rituale, wenn sie ihnen gut erklärt werden. Viele jammern,
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