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Wo gibt es neue Schuhe, Genossen

Wo gibt es neue Schuhe, Genossen

Titel: Wo gibt es neue Schuhe, Genossen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Freunde!
    Der Marktplatz war voll von Menschen, die so eng beieinander standen, daß niemand mehr umfallen konnte. Die meisten hatten ihre Sonntagskleidung angezogen, und die Frauen sahen hübsch aus in ihren Kopftüchern. Magazinverwalter Amossow und seine vier Gehilfen standen bereit, die Wagen zu entladen, und der Gesangschor des Holzkombinats ›1. Oktober‹ hatte zwei Lieder einstudiert, die von der schönen Heimat, der Taiga, berichteten. Trotz intensiven Suchens in Liederbüchern hatte man kein Gesangsstück entdeckt, das von Schuhen handelte.
    Die Meldungen kamen laufend nach Nowo Tschemka. Der kritische Punkt, das Städtchen Barraska, war ohne Zwischenfälle passiert worden; aber wohl nur deshalb, weil Fedjas Geländewagenkolonne den Lastwagen mit Anhänger in die Mitte genommen hatte, und die Genossen zu Pferd, mit dicken Knüppeln in der Hand, den ganzen Konvoi umkreisten.
    Dr. Balujew ließ es sich nicht nehmen, vor Beginn des großen Empfangs noch einmal nach Großmütterchen Valentina zu sehen. Die uralte Mahmednowka saß auf der Bettkante, schrie nach ihrem Enkel Juri, verlangte ihr Festkleid, wollte die Nachbarin herbeigeschafft haben, damit sie ihr die Haare frisierte, und zeterte zum Gotterbarmen, als der Arzt ins Zimmer schaute.
    »Alle vergessen mich!« schrie sie heiser. »Bin ich denn tot? Ha! Ich lebe! Rassul Germanowitsch, bestätigen Sie, daß ich lebe! Man will mich nur um die neuen Schuhe betrügen! Man will mich einfach abschreiben, streichen, nicht mehr wahrnehmen! Aber ich zeige es ihnen! Ha, ich zeige es ihnen!«
    Sie stemmte sich mit Hilfe von Dr. Balujew vom Bett hoch, schlurfte in ihrem Totenhemd zum Fenster und riß es auf. Amossow, der darunter stand, zusammen mit seinen vier Gehilfen, zuckte wie gestochen zusammen, als er über sich Valentinas krächzende Stimme hörte.
    »Ich bin da, Genossen!« schrie die Uralte aus dem Fenster. »Rechnet mit mir!«
    Einer der Begleitreiter galoppierte über den Marktplatz, von hundertfältigem Klatschen und lauten Zurufen empfangen.
    »In zehn Minuten sind sie da!« brüllte er über die Menge hinweg. »Überzeugt habe ich mich, unter die Planen geschaut: Alles voll mit Schuhkartons!«
    Leute, welch ein Feiertag!
    Am Rande des Waldes zischte die vereinbarte Rakete in den Himmel. Pope Wladimir ließ die Glocke läuten, Parteisekretär Gorski, auf einer kleinen, schnell gezimmerten und mit der roten Fahne verkleideten Holztribüne, prüfte sein Megaphon und machte »husch – husch« in das eingebaute Mikrofon. Vier Milizionäre hielten die Gasse offen, durch die die Kolonne bis zum Magazin fahren mußte. Der Gesangverein des Kombinats scharte sich um den Dirigenten und lauschte auf den vorgegebenen Kammerton A.
    Und dann kamen sie: Zuerst Fedja mit dem Geländewagen, dann sechs Reiter und hinter diesen der große, breite, hohe Lastwagen mit dem Anhänger. Auf der Plane war ganz deutlich zu lesen: Bezirksmagazin Jenisseisk.
    Überschlagen wir den Jubel und die Begeisterung, die über eine Stunde anhielten. Der Chor sang, Gorski hielt eine flammende Rede über den sozialistischen Fortschritt, der Pope läutete immer noch die Glocke, die Genossen klatschten und hätten sogar getanzt, wenn sie nicht so eng beieinander gestanden hätten, der Fahrer und sein Beifahrer wurden von maßgebenden Bürgern Nowo Tschemkas mit Bruderküssen begrüßt … alles in allem: Es war ergreifend!
    Dann begann das Ausladen der Schuhkartons. Unter »Oh«- und »Ah«-Rufen trugen Amossow und seine vier Gehilfen die Kartonstapel in das Magazin und schichteten sie auf. Das war eine schweißtreibende Arbeit, aber als der letzte Karton vom Lastwagen im Magazin verschwunden war, breitete Amossow die Arme aus und rief in das Volk:
    »Nun haben wir sie ganz sicher, Freunde! Wir müssen sie jetzt nur noch der Größe nach sortieren. Ab Montag beginnt dann der Verkauf.«
    Die Bürger von Nowo Tschemka klatschten wieder. Dann zerstreuten sie sich, zogen zum Feiern in die vier Wirtschaften oder versammelten sich in den Gärten der Nachbarn. Ein Bild des Friedens und der Brüderlichkeit.
    Ab Montag also!
    Valentina Mahmednowka schlurfte wieder in ihr Bett, legte sich hin, versteifte sich wie seit Wochen und sagte zu Dr. Balujew:
    »Ich bin die erste, die ein Paar neue Schuhe bekommt. Wozu ist Juri mein Enkel?! Sag ihm das, Doktor … er selbst ist ja zu feige, zu mir zu kommen!«
    Dr. Balujew versprach es ihr und ging hinüber ins Parteihaus. Dort saß Gorski vor einem Gläschen
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