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Wo gibt es neue Schuhe, Genossen

Wo gibt es neue Schuhe, Genossen

Titel: Wo gibt es neue Schuhe, Genossen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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neununddreißig Jahren war er in der Siedlung Nowo Tschemka aufgetaucht, die damals, im Jahre 1938, ein erbärmliches Nest war. Bewohnt wurde das Dörfchen von ein paar Jägern, einigen entlassenen Strafgefangenen, die ihre Familien hatten nachkommen lassen, weil sie sich rätselhafterweise in Sibirien verliebt hatten, einem kleinen Stab von Technikern, die gerade damit begannen, das Holzkombinat aufzubauen, und den wenigen Ureinwohnern, von denen heute nur noch Valentina Mahmednowka lebte. Das waren die einzigen gewesen, die dort wohnten. Und da kam ein studierter Mann mit einem Materialtransport in die Taiga, sah sich um und sagte: »Hier bleibe ich! Ich bin Arzt! Einen Arzt kann man überall gebrauchen.«
    Ganz langsam sickerte durch, daß Dr. Rassul Germanowitsch Balujew in Irkutsk, der großen Stadt am Baikalsee, studiert und alle Examina mit Auszeichnung bestanden hatte. Er sah also eine große Zukunft vor sich liegen, als er den Fehler beging, die Tochter eines Mitglieds des Obersten Sowjets, der aus Irkutsk stammte, zu schwängern. Der Vater der Schönen war außerdem noch ein Freund Stalins, was sehr selten war, denn Stalin hatte kaum Freunde. Fehler über Fehler also, die der kecke Rassul damals beging. Das hohe Töchterchen verschwand zur angemessenen Zeit in einem Sanatorium auf der Krim, und niemand hat erfahren, ob das Kind auch geboren wurde. Dr. Rassul Germanowitsch Balujew aber ging von Irkutsk weg, verfolgt von den Intrigen der hochgestellten Familie. Er erhielt bereitwillig von der Parteileitung eine Bescheinigung, daß er sich niederlassen könne, wo er wolle, nur nicht in der Nähe von Irkutsk, und so landete er eines Tages in Nowo Tschemka. Wie das Schicksal so spielt …
    Er baute sich ein Haus, aber heiratete nie, verteilte auch keine unehelichen Kinder, war aber immer bereit, wenn man ihn rief, zu helfen, und das nicht nur in medizinischer Hinsicht. Er wurde neben dem Popen Wladimir Beichtvater der Bürger von Nowo Tschemka, reparierte Ehen, stiftete welche, löste andere menschliche Probleme, gab sogar juristische Ratschläge und wurde so etwas wie die letzte Instanz. Wenn etwas nicht klappte in Nowo Tschemka … man ging zu Dr. Rassul! Selbst Gorski schlich in der Dunkelheit ein paarmal in das Haus des Doktors, um sich Rat zu holen, obgleich eigentlich die Partei zuständig war.
    Jetzt war es Amossow, der ihn dringend brauchte. Er hatte Dr. Balujew angerufen – in Nowo Tschemka gab es genau dreiundfünfzig Telefonanschlüsse, und einer gehörte natürlich dem Magazin. Juri Leonidowitsch hatte nur stottern können am Apparat. Das war neu bei ihm. Rassul Germanowitsch packte die größte Spritze mit der dicksten Kanüle in seine Arzttasche und ging die dreißig Meter bis zu Amossow zu Fuß. Weitere Strecken fuhr er mit einem uralten Wolga-Wagen, von dem behauptet wurde, ihn hielten nur noch Spachtelmasse und Lackschichten zusammen. Aber das Auto fuhr! Und es rasselte auch noch über die Wege voller Eishuckel, wenn andere Wagen vor dem Winter kapitulierten. 50 Grad Kälte, das war keine Seltenheit in Nowo Tschemka.
    Amossow saß apathisch in einem alten Plüschsessel und stierte Dr. Balujew mit bleichem Gesicht an.
    »Großmütterchen Valentina läuft wieder herum«, sagte er und schluckte krampfhaft, als habe er einen Stein in der Kehle sitzen. »Aber das ist es nicht, Genosse Doktor: Die ganze Stadt ist verrückt, weil Wassja, dem ich ein Geheimnis anvertraut habe, es sofort überall erzählt hat.«
    »Die neuen Schuhe!« rief Dr. Balujew begeistert. »Ich weiß. Mein Antrag liegt schon beim Parteisekretariat! Gorski hat mir fest ein Paar zugesagt! Der Teufel hätte ihn geholt, wenn er's nicht versprochen hätte!«
    »Es … es kann aber sein …«, stotterte Amossow und verdrehte schauerlich die Augen, als wenn er gewürgt würde, »daß … daß … Genosse Doktor, erstechen Sie mich mit Ihrer dicksten Spritze … es kann sein, daß die Schuhe gar nicht kommen …«
    »Was?!« Dr. Balujew ließ sich schwer neben Amossow in einen Sessel fallen. Er war ein dicker, schwerer Mann, der gern Hirschlende in Sahnesoße aß, dazu kandierte Wildfrüchte und danach ein paar Gläschen Wodka zum Verteilen trank. Das wußten seit neununddreißig Jahren alle Einwohner von Nowo Tschemka, und daher begann oder endete eine ärztliche Konsultation Dr. Balujews, jedenfalls ein Hausbesuch, immer mit einem guten Essen. Man konnte sich, wenn man ihn sah, nicht vorstellen, daß er nie zum Großen
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