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Wo gibt es neue Schuhe, Genossen

Wo gibt es neue Schuhe, Genossen

Titel: Wo gibt es neue Schuhe, Genossen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zugesperrt und sich in seinem daneben gelegenen Haus verbarrikadiert, weil eine große Menschenmenge vor dem ›Kaufhaus‹ versammelt war und im Sprechchor rief: »Juri Leonidowitsch, kommen wirklich neue Schuhe? Neue Schuhe? Neue Schuhe?!«
    »Behaltet die Nerven, Genossen!« rief Gorski. »Ich habe mich erkundigt: Es stimmt! Die Zentrale in Jenisseisk hat uns die neuen Schuhe zugeteilt. Sie sollen aus dem Schuhkombinat von Krasnojarsk kommen! Ein großer Lastwagen mit Anhänger ist unterwegs. Ich weiß sogar die Zahl: 1.000 Paar Herrenschuhe, 500 Paar Damenschuhe! Ruhe, Genossen! Ruhe! Das Parteibüro wird die Bedürftigkeit eines jeden Bürgers prüfen! Wer neue Schuhe nötig hat, wird welche bekommen! Macht den Marktplatz frei, liebe Genossen! Verteilt euch! Vertraut auf die Partei, die immer für euch da ist!«
    Nun war es amtlich! Wenn Gorski so etwas über den Lautsprecher verkündete, gab es keine Zweifel mehr. Magazinverwalter Amossow atmete auf, bekam aber gleich darauf einen fast tödlichen Schrecken. Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich nämlich, in einem langen weißen Sterbehemd stand Großmütterchen Valentina im Raum, stützte sich auf ihren Stock und streckte ihren Zeigefinger nach dem fassungslosen Juri Leonidowitsch aus.
    »Was höre ich?« sagte sie. Ihre Stimme war so seltsam klar, wie seit Wochen nicht mehr. »Es gibt neue Schuhe?«
    »Man … man sagt es …«, stammelte Amossow.
    »Gorski trompetete es ja über die Stadt!«
    »Dann muß es stimmen, Großmütterchen.«
    »Und du weißt es nicht, du Schwachkopf?!« sagte Valentina Mahmednowka laut. Der Name Mahmednowka war eine Seltenheit in Nowo Tschemka. Es gab ihn auch nur deshalb in diesem Städtchen, weil sich damals, vor langen Jahren, die 17jährige Valentina in einen durchreisenden Zimmermann verliebte, der aus dem Süden, aus Taschkent, kam und ein Mohammedaner war. Der Zimmermann aus Taschkent blieb ein Jahr in Nowo Tschemka, besserte – als Mohammedaner – sogar das Dach der Kirche aus und war dann plötzlich über Nacht verschwunden, so wie er gekommen war. Zurück ließ er die 18jährige Valentina, die im sechsten Monat schwanger war und sich von der Geburt des Kindes an Mahmednowka nannte, weil der Vater des Kleinen Mahmed geheißen hatte.
    Auch in Nowo Tschemka gibt es absurde Schicksale, wie man sieht.
    »Natürlich weiß ich es«, sagte Amossow jetzt. Er hatte den ersten, kaum verdaubaren Schrecken hinuntergeschluckt: Das sterbende Großmütterchen lief wieder herum!
    »Und niemand sagt mir etwas?« schrie die Uralte. »Lassen mich im Bett liegen, rufen den glotzäugigen Wassja Lukanowitsch, um mich auszumessen … aber daß es neue Schuhe gibt … nein, das sagt mir keiner! Wenn nicht zufällig das Fenster offen gewesen wäre, und ich Gorski dadurch gut verstehen konnte … hätte mir das jemand erzählt, ha?!«
    »Warum?« stöhnte Amossow. »Warum denn, Mütterchen?!«
    »Warum?« Valentina in ihrem langen, weiten Sterbehemd stieß mit dem Stock auf den Dielenboden. »Warum fragt er auch noch?! Gott, womit habe ich ehrliche Frau einen solch hirnlosen Enkel verdient?! Juri Leonidowitsch: Auch ich brauche neue Schuhe!«
    »Nein!« wimmerte Amossow. »Nein! Nein!«
    »Ich werd's dir beweisen!« Valentina Mahmednowka schlurfte zur Tür. »Nur Flicken haben meine Schuhe! Nur noch Flicken! Ich sage dir, Enkelsöhnchen: Wenn ich keine neuen Schuhe zugeteilt bekomme, verprügele ich dich hier mit diesem Stock.«
    Sie hob drohend ihren Knüppel, stand tatsächlich ohne Stütze hochaufgerichtet da, wo sie doch seit Wochen wie gelähmt im Bett gelegen hatte, regungslos, vor sich hinmummelnd, ohne Gefühl für Ort und Zeit. Drohend blickte sie Amossow an und ging dann zurück in ihr Sterbezimmer.
    Amossow sank in sich zusammen. Tränen rannen ihm über das Gesicht; jedoch nicht aus Freude, daß Großmütterchen so munter erschien, sondern weil sein Inneres im Augenblick völlig zerstört war. Er mußte einfach weinen, weil alles dann leichter ging.
    Zur gleichen Zeit hatte aber auch der Parteisekretär Gorski seine Probleme. Eine Abordnung des Holzkombinats ›1. Oktober‹ stand bei ihm im Büro und äußerte stärkste Bedenken wegen des Transportes der neuen Schuhe von Jenisseisk bis Nowo Tschemka.
    »Andrej Fillipowitsch, wir sehen da große Gefahren«, sagte zum Beispiel der bärenstarke Vorarbeiter Fedja. Er breitete eine alte, abgegriffene, zerschlissene Landkarte auf dem Schreibtisch aus, die einer der Geologen vor zwei Jahren
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