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Wo gibt es neue Schuhe, Genossen

Wo gibt es neue Schuhe, Genossen

Titel: Wo gibt es neue Schuhe, Genossen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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rechte Schuhe schicken, und das Kombinat Krasnojarsk 1.500 linke nach Nowo Tschomska. Einfacher geht's doch nicht!« Gorski war sichtlich stolz auf seinen Vorschlag. »Nur eine Verzögerung von ein paar Tagen, liebe Leute.«
    »Irrtum, Genosse.« Der Lastwagenfahrer schüttelte den Kopf. Er saß an der Wand auf dem Boden und war nicht einmal beleidigt, daß man ihm bis jetzt keinen Stuhl angeboten hatte. Auch der Beifahrer saß neben ihm, aber er schlief fest, mit auf die Brust gesunkenem Kopf. »Das geht überhaupt nicht.«
    »Und warum nicht?« knirschte Gorski.
    »Die Zuteilungspläne sind für zwei Jahre fertig! Jeder Schuh ist verplant! Einer muß also seine neuen Schuhe abgeben: Entweder Nowo Tschemka die linken oder Nowo Tschomska die rechten …«
    »Wir – nie!« sagte der Pope dröhnend. »Es war Gottes Segen, daß wir die linken Schuhe bekommen haben! Der Herr wird uns auch die rechten Schuhe schicken!«
    »In drei Jahren vielleicht!« röchelte Gorski.
    »Mein Sohn …« Der Pope hob segnend die Hände. »Was sind drei Jahre für Rußland …«
    Es war erstaunlich, ja geradezu ergreifend anzusehen, wie am Montag ganz Nowo Tschemka, Männer und Frauen, in Zweierreihen vorn durch den Eingang in das staatliche Magazin hineinzogen und hinten wieder herauskamen. Eine lange, stumme Menschenschlange, wie bei Lenins Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau. Dort besichtigt man mit Tränen in den Augen eine fahl angestrahlte Mumie … hier zog man ergriffen an den offenen Kartons mit den linken Schuhen vorbei. Schöne, schwarze Männerschuhe, schöne, braune Damenschuhe mit Riemchen. Auch in Nowo Tschemka hatten viele beim Verlassen des Magazins Tränen in den Augen. Fast fühlten sie den gleichen Entsagungsschmerz wie beim Anblick des konservierten Lenins. Ob ein berühmter Toter oder unerreichbare neue Schuhe … ich frage euch, meine Lieben, wo sitzt da der Schmerz tiefer?!
    Am Ausgang des Magazins stand Amossow und drückte jedem kondolierend die Hand. Das Beileid kam an ihn zurück, denn Großmütterchen Valentina lag nach Begreifen der Wahrheit, daß es keine neuen Schuhe gab, im Koma, und jeder wartete auf ihr Ende.
    Dr. Balujew saß bei ihr und kontrollierte ihren Herzschlag, der kaum noch vernehmbar war.
    Gegen Mittag flaute das Defilee an den Kartons mit den linken Schuhen ab, dafür rückte die Holzfällerbrigade aus der Taiga an, an der Spitze der bärenstarke Fedja und der II. Ingenieur, die geistige Kraft der Brigade. Auch diese durch nichts aus der Ruhe zu bringenden Genossen marschierten ergriffen an den linken Schuhen vorbei, nur die letzten Kartons litten sehr unter der Enttäuschung der Männer: Jeder, der das Magazin verließ, spuckte sie an. Vom Hygienischen her betrachtet, war das nicht gut … aber Amossow verstand den tiefen Schmerz der Holzfällerbrigade.
    Im Parteihaus tagte unterdessen permanent ein ›kleiner Rat‹ von verläßlichen und klugen Genossen, zu denen sogar der Pope gehörte. Bei jedem Telefonklingeln schraken sie auf, sahen sich an und dachten: Das ist Nowo Tschomska! Sie wollen unsere linken Schuhe!
    Es war möglich, daß um die gleiche Zeit im Parteihaus von Nowo Tschomska ebenfalls ein ›kleiner Rat‹ von Genossen saß und zusammenschrak, wenn das Telefon anschlug: Jetzt wollen sie unsere rechten Schuhe! – Wer weiß das? Sicher war nur, daß weder von der einen noch von der anderen Seite her angerufen wurde. Hier zeigte sich ganz deutlich die Einheit der Werktätigen im Handeln und Denken: Was wir haben, das haben wir! So eine kleine Panne der Planwirtschaft, Genossen … wer redet denn darüber? Die Schuhe für die andere Fußseite werden auch noch eintreffen. Oder kann jemand leugnen, daß wir 1.500 neue Schuhe bekommen haben, na?
    Die Holzfällerbrigade indessen kam mit konkreten Vorschlägen ins Parteihaus. Gorski, bleich, übermüdet, hohläugig, hing auf seinem Stuhl hinter dem Parteischreibtisch und versuchte, mit den anderen Genossen einen deftigen Beschwerdebrief an die obere Parteileitung zu formulieren. Es war sicher, daß dieser Brief nie abgeschickt werden würde, aber man mußte etwas tun, denn das Amt des Parteisekretärs verlangte Initiative! Nun kamen auch noch Fedja und der II. Ingenieur, als Delegation des Holzkombinats ›1. Oktober‹ ins Büro.
    »Man sollte persönlich eine Petition nach Irkutsk bringen!« sagte der II. Ingenieur zum Beispiel. »Jeder weiß ja, wie das geht mit den Briefen. Da sitzt ein Herzchen von Sekretärin und selektiert
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