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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt
Autoren: Deborah Harkness
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geradem Weg erreichen. Allerdings wurde von mir ein Hofknicks erwartet. Françoise brachte mir in aller Eile das Knicksen bei, während sie mir gleichzeitig erklärte, wie Henry Percys verschiedene Titel verwendet wurden – für mich war er Lord Northumberland, obwohl er mit Nachnamen Percy hieß und ein Earl war.
    Doch mir sollte sich keine Gelegenheit bieten, mein frisch erworbenes Wissen anzuwenden. Sobald Matthew und ich den Saal betraten, sprang ein schlaksiger, junger Mann in schlammbespritzter Reisekleidung auf, um uns zu begrüßen. Sein breites Gesicht leuchtete neugierig auf, und seine schweren, aschgrauen Brauen hoben sich.
    »Hal.« Matthew lächelte ihn mit der nachsichtigen Vertraulichkeit eines älteren Bruders an. Aber der Earl ignorierte seinen alten Freund und steuerte geradewegs auf mich zu.
    »M-M-Mistress Roydon.« Er sprach in tiefem Bass, aber praktisch tonlos, betonungslos und akzentfrei. Auf der Treppe hatte Matthew mir erklärt, dass Henry schwerhörig war und seit seiner Kindheit stotterte. Dafür war er ein begnadeter Lippenleser. Mit ihm würde ich hoffentlich sprechen können, ohne mir um meinen Akzent Gedanken machen zu müssen.
    »Wieder einmal ist mir Kit zuvorgekommen, wie ich sehe.« Matthew lächelte resigniert. »Ich hatte gehofft, ich könnte es Euch selbst erzählen.«
    »Wen interessiert es schon, wer die frohe Botschaft verkündet?« Lord Northumberland verbeugte sich. »Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Mistress, und bitte um Verzeihung, dass ich Euch so überfalle. Es ist höchst gnädig von Euch, die Freunde Eures Gemahls schon zu solch früher Stunde zu ertragen. Wir hätten auf der Stelle abreisen sollen, sobald wir von Eurer Ankunft erfuhren. Das Gasthaus hätte uns als Obdach genügt.«
    »Ihr seid hier mehr als willkommen, Mylord . « Damit war der Moment für einen Knicks gekommen, aber meine schweren schwarzen Röcke waren kaum zu bändigen, und das Korsett war so eng geschnürt, dass mein Rücken völlig steif war. Ich wollte die Beine beugen, um auf diese Weise eine angemessen ehrerbietige Pose herzustellen, kam aber sofort ins Schwanken. Eine große Hand schoss vor und fing mich mit dicken Fingern ab.
    »Einfach Henry, Mistress. Alle Welt nennt mich Hal, mein Taufname ist darum förmlich genug.« Wie so viele Schwerhörige sprach der Earl absichtlich leise. Er ließ mich los und drehte sich zu Matthew um. »Warum ohne Bart, Matthew? Wart Ihr krank?«
    »Ein kurzer Schüttelfrost, mehr nicht. Die Ehe hat mich kuriert. Wo sind die anderen?« Matthew sah sich suchend nach Kit, George und Tom um.
    Bei Tag sah der große Saal der Old Lodge ganz anders aus. Ich hatte ihn bisher nur nachts gesehen, aber bei Tageslicht stellte sich heraus, dass die schweren Vertäfelungen in Wahrheit Fensterläden waren, die nun allesamt weit offen standen. Dadurch bekam der Raum etwas Luftiges, trotz des monströsen Kamins am anderen Ende. Der Kamin war mit mittelalterlichen Steinmetzarbeiten verziert, die Matthew zweifelsohne aus der Abtei gerettet hatte, die einst hier gestanden hatte – das zerquälte Gesicht eines Heiligen, ein Wappen, ein gotischer Vierpass , das steinerne Kleeblatt.
    »Diana?« Matthews fröhliche Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Hal sagt, die anderen sind im Salon und lesen oder spielen Karten. Er fand es unangebracht, sich zu ihnen zu gesellen, bevor ihn die Dame des Hauses in aller Form eingeladen hat.«
    »Selbstverständlich muss der Earl bleiben, und wir können sofort zu deinen Freunden gehen.« Mein Magen knurrte.
    »Oder wir könnten dir etwas zu essen besorgen«, schlug er mit einem Grinsen vor. Nachdem ich meine Begegnung mit Henry Percy ohne Malheur überstanden hatte, begann sich Matthew zu entspannen. »Habt Ihr schon Stärkung bekommen, Hal?«
    »Pierre und Françoise waren aufmerksam wie immer«, versicherte er uns. »Natürlich, wenn Mistress Roydon mir Gesellschaft leisten würde …« Die Stimme des Earl versiegte, und sein Magen begann mit meinem im Duett zu gurgeln. Der Mann war groß wie eine Giraffe. Bestimmt brauchte er Unmengen an Kalorien, um seinen Stoffwechsel in Gang zu halten.
    »Auch ich genieße gern ein ausgiebiges Frühstück, Mylord «, antwortete ich lachend.
    »Henry«, korrigierte mich der Earl freundlich und lächelte dabei so breit, dass sich ein Grübchen in sein Kinn bohrte.
    »Dann müsst Ihr mich Diana nennen. Ich kann unmöglich den Earl of Northumberland beim Vornamen nennen, wenn er mich weiterhin als
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