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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt
Autoren: Deborah Harkness
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einen Durchgang in einen weiteren Raum. Von dort aus ergoss sich in einem verzerrten goldenen Rechteck Licht über den Boden und die Bettdecke. Die Wände waren mit denselben gefalteten Holzpaneelen vertäfelt, die mir schon im 21. Jahrhundert bei meinen Besuchen in Matthews Heim in Woodstock aufgefallen waren. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke hoch. Sie war dick verputzt, in Kassetten unterteilt, und jede Vertiefung war golden grundiert und mit einer strahlend rot-weißen Tudor-Rose verziert.
    »Die Rosen waren eine Auflage, damit ich das Haus bauen durfte«, kommentierte Matthew spröde. »Ich finde sie schrecklich. Wir werden sie weiß überstreichen, sobald es sich machen lässt.«
    Die Flammen über der Kerze auf dem Tisch flackerten in einem Luftzug, beleuchteten dabei die untere Ecke eines sattbunten Wandteppichs und brachten die dunklen, glänzenden Fäden zum Leuchten, mit denen das Blätter- und Früchtemuster der hellen Tagesdecke auf dem Bett eingefasst war. So schimmerten keine modernen Stoffe.
    Plötzlich war ich sehr aufgeregt und musste unwillkürlich lächeln. »Ich habe es wirklich geschafft. Ich habe nicht gepatzt oder uns sonstwohin geschickt, nach Monticello zum Beispiel oder …«
    »Nein.« Er lächelte ebenfalls. »Du hast das ganz wunderbar gemacht. Willkommen im England Elisabeths I.«
    Zum ersten Mal in meinem Leben war ich überglücklich, eine Hexe zu sein. Als Historikerin hatte ich die Vergangenheit studiert. Als Hexe konnte ich sie tatsächlich besuchen. Wir waren ins Jahr 1590 gereist, weil ich in der vergessenen Kunst der Magie unterrichtet werden sollte, doch es gab hier für mich noch so viel mehr zu lernen. Ich wollte mich gerade vorbeugen, um das mit einem Kuss zu feiern, als eine Tür quietschte und mich innehalten ließ.
    Matthew legte einen Finger auf meine Lippen. Er drehte den Kopf zur Seite, und seine Nasenflügel begannen zu beben. Im nächsten Moment entspannte er sich wieder, weil er erkannt hatte, wer sich nebenan aufhielt, wo inzwischen ein leises Rascheln zu hören war. In einer geschmeidigen Bewegung griff Matthew nach dem Buch, stand auf und zog mich hoch. Dann nahm er mich an der Hand und führte mich zur Tür.
    Im Zimmer nebenan stand ein Mann mit zerzaustem braunem Haar an einem mit Briefen übersäten Tisch. Der Fremde, der uns den Rücken zukehrte, war durchschnittlich groß und schlank und trug teure, maßgeschneiderte Kleider. Er summte eine mir unbekannte Melodie und durchsetzte sie mit einzelnen Worten, die er allerdings zu leise sang, als dass ich sie hätte verstehen können. »Wo versteckt Ihr Euch nur, mein holder Matt?« Der Mann hielt ein Blatt Papier gegen das Licht.
    »Sucht Ihr etwas, Kit?« Auf Matthews Frage hin ließ der junge Mann das Blatt fallen und wandte sich zu uns um. Sein Gesicht erstrahlte. Ich hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, auf meiner Taschenbuchausgabe von Christopher Marlowes Der Jude von Malta.
    »Matt! Pierre sagte, Ihr wärt in Chester und würdet vielleicht nicht rechtzeitig heimkehren. Aber ich wusste, dass Ihr unsere jährliche Zusammenkunft nicht missen wolltet.« Die Worte klangen vertraut, wurden aber in einem so fremdartigen Tonfall vorgetragen, dass ich konzentriert zuhören musste, um alles zu verstehen. Das elisabethanische Englisch unterschied sich längst nicht so sehr von dem der Moderne wie allgemein angenommen, aber es war auch nicht so leicht zu verstehen, wie ich aufgrund meiner intensiven Beschäftigung mit den Stücken Shakespeares gehofft hatte.
    »Wo ist Euer Bart abgeblieben? Wart Ihr krank?« Marlowes Blick fiel auf mich, und ich spürte jenen sanften Druck auf meiner Haut, der den Dämon verriet.
    Ich musste mich beherrschen, um nicht auf einen der größten Dramatiker Englands zuzustürmen, seine Hand zu schütteln und ihn mit Fragen zu bombardieren. Selbst das Wenige, das ich über ihn wusste, war wie weggeblasen, als ich ihn so vor mir stehen sah. Waren seine Stücke im Jahr 1590 schon aufgeführt worden? Wie alt war er? Sicherlich jünger als Matthew und ich. Marlowe konnte noch keine dreißig sein. Ich lächelte ihn freundlich an.
    »Wo in aller Welt habt Ihr das da aufgetrieben?« Marlowe streckte den Zeigefinger in unsere Richtung, und seine Stimme triefte vor Verachtung. Ich rechnete fest damit, hinter mir ein misslungenes Kunstwerk vorzufinden, und drehte mich um. Aber da war nur Leere.
    Er meinte mich. Mein Lächeln erstarb.
    »Sachte, Kit«, warnte Matthew ihn
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