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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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Einwirkung der Realität zu schützen. Vielleicht hat von Trier wirklich begriffen, was geschieht, nachdem das Erhabene verschwunden ist. Haben Sie etwa gedacht, am Jüngsten Tag würden die Toten wiederauferstehen? Keineswegs. Wenn die Posaunen des Gerichts in Ihren Ohren widerhallen, werden Sie in Melancholie verfallen. Da wird Ihnen kein Ritual helfen. Setzen wir uns doch einfach in unsere Zauberhütte und fahren bis zum bitteren Ende fort zu leugnen, zu leugnen und zu leugnen.
    Was sollen wir also tun, wenn wir es mit einer Frage zu tun haben, die für uns einfach zu groß ist? Wenn nicht leugnen, was dann? Eine mögliche Lösung ist die, auf die Techniken achtzugeben, mit deren Hilfe man zu Maßstäben gelangt, sowie auf die Instrumente, die Kommensurabilität überhaupt erst ermöglichen. Der bloße Begriff des Anthropozäns impliziert ja ein solches gemeinsames Maß. Falls es zutrifft, daß »der Mensch das Maß aller Dinge ist«, könnte es auch an diesem kritischen Punkt funktionieren.
    Es ist ein Grundsatz der Wissenschaftsforschung und der Akteur-Netzwerk-Theorie, daß man niemals annehmen sollte, Unterschiede des Maßstabs existierten von vornherein. Vielmehr sollte man stets herauszubekommen versuchen, wie Maßstäblichkeit produziert wird. Zum Glück ist es so, als wäre dieser Grundsatz wie für die ökologische Krise gemacht: Es gibt nichts an der Erde als Erde, was wir nicht erst durch die Disziplinen, Instrumente, Vermittlungen und Erweiterungen wissenschaftlicher Netze wüßten. Das gilt für die Größe der Erde ebenso wie für ihre Zusammensetzung, ihre weit zurückreichende Geschichte und so weiter. Selbst die Bauern verlassen sich auf das Spezialwissen der Agronomen, der Bodenkundler und so fort. Für das Erdklima gilt das sogar in noch höherem Maße: Per definitionem ist der Globus nichts Globales, sondern in ganz buchstäblichem Sinne ein maßstäbliches Modell , das durch zuverlässige, sichere Netze mit Stationen verbunden ist, an denen Daten gesammelt und an die Modellierer zurückgeschickt werden. Das ist keine relativistische These, die diese Wissenschaft in Frage stellen könnte, sondern ein relationentheoretischer Grundsatz, der die Robustheit jener Disziplinen erklärt, welche die Verbindungen herstellen , vermehren und instand halten sollen.
    Es tut mir leid, daß ich auf einem Verfahren beharre, das wie Haarspalterei aussieht, aber es gibt keine Möglichkeit, einen Ausweg aus der Kluft zu erkunden, es sei denn, wir schaffen Klarheit über das Instrument zur Maßstabsbildung, das lokal das Globale erzeugt. Mein Argument (oder eigentlich: das Argument der Wissenschaftsforschung) besagt, daß es keinen Zoomeffekt gibt: Die Dinge sind nicht der Größe nach geordnet, so als wären sie Schachteln im Inneren weiterer Schachteln. Vielmehr sind sie durch ihre Verknüpftheit geordnet, so als wären sie Knotenpunkte, die mit anderen Knoten verbunden sind. Niemand hat das besser gezeigt als Paul Edwards in seinem schönen Buch über die Klimaforschung ( A Vast Machine ). 4 Sofern es den Meteorologen und später den Klimaforschern gelungen ist, sich einen »globalen« Überblick zu verschaffen, dann deswegen, weil sie mit Erfolg immer leistungsfähigere Modelle konstruiert haben, die die von immer zahlreicheren Stationen oder Dokumenten – Satelliten, Jahresringen, Logbüchern längst verstorbener Seefahrer, Eiskernen und so weiter – stammenden Daten rekalibrieren können.
    Interessanterweise ist dies genau der Punkt, an dem die Klimaleugner ansetzen: Sie finden, dieses Wissen sei zu indirekt, zu vermittelt, zu weit weg vom unmittelbaren Zugang (ja, diese ungläubigen Thomasse der Epistemologie glauben anscheinend nur an unmittelbare Erkenntnis). Es ärgert sie zu sehen, daß Einzeldaten als solche keinen Sinn haben, daß alle diese Daten neu berechnet und neu formatiert werden müssen. Die Klimaleugner halten es genauso wie die Holocaust- oder Völkermordleugner und geben sich, im Hinblick auf künftige Verbrechen, einen positivistischen Anstrich, um in das außergewöhnliche Rätsel der kreuz und quer verlaufenden Dateninterpretationen Löcher zu bohren. Die Klimaforschung ist kein Kartenhaus, sondern ein Gewebe , wahrscheinlich eines der schönsten, stabilsten und komplexesten Gewebe, die je zusammengefügt wurden. Natürlich sind Löcher darin – Löcher gehören wesentlich dazu, wenn man Fäden miteinander verknüpfen will. Doch dieses Gewebe ist aufgrund der angewandten Webtechnik
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