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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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gewaltig, wenn man ihn mit dem primären Ausstoß der Biosphäre vergleicht ( 130 TW ). Und wenn alle Menschen den gleichen Energieverbrauch hätten wie die Nordamerikaner, lägen wir bei 100 TW , das heißt: Wir könnten doppelt soviel Muskeln spielen lassen wie die Plattentektonik. Das ist keine schlechte Leistung. »Ist es ein Flugzeug? Ist es die Natur? Nein, es ist Superman!« Wir sind Superman geworden, ohne auch nur zu merken, daß wir in der Telefonzelle nicht bloß die Kleidung gewechselt haben, sondern auch enorm gewachsen sind. Können wir darauf stolz sein? Na ja, nicht so richtig. Und das ist das Problem.
    Die Kluft hat sich so drastisch verschoben, daß sie kein Gefühl des Erhabenen mehr erzeugt, denn jetzt sind wir dazu aufgerufen, uns für die raschen und unumkehrbaren Veränderungen der Erdoberfläche, die zum Teil infolge unseres gewaltigen Energieverbrauchs eingetreten sind, verantwortlich zu fühlen. Wir sind dazu aufgefordert, einen neuerlichen Blick auf die Niagarafälle zu werfen, doch diesmal mit dem irritierenden Gefühl, daß das Wasser möglicherweise bald nicht mehr hinunterströmen könnte (was für Shelleys immerfort springende Wasserfälle nicht so erfreulich wäre). Wir sind dazu aufgefordert, einen neuerlichen Blick auf das ewige Eis zu werfen, wobei uns allerdings das flaue Gefühl überkommt, daß es sich vielleicht doch nicht mehr so lange hält. Und wir sind dazu aufgerufen, die ausgedörrte Wüste noch einmal zu betrachten, wobei sich jedoch die Ahnung einstellt, sie werde unerbittlich größer, weil wir so katastrophal mit dem Land umgehen. Vielleicht bleiben uns nur die Galaxien und die Milchstraße übrig, um das alte demütigende Spiel des Staunens zu spielen, denn sie sind weit von der Erde entfernt (und somit für uns unerreichbar, da sie zu jenem Teil der Natur gehören, der in der Antike unter die Kategorie des Supralunaren fiel – darauf komme ich später zurück).
    Wie soll man das Erhabene spüren, während die Schuld an den Eingeweiden nagt? Und sie nagt in einer neuen, unerwarteten Weise, denn natürlich trage ich die Verantwortung genausowenig wie Sie . Keiner ist für sich genommen verantwortlich. Alles, was geschieht, wirkt so, als sei das einstige Gleichgewicht zwischen der Betrachtung des moralischen Gesetzes in uns und der Betrachtung der unschuldigen Naturkräfte außer uns durch und durch gestört worden. Es sieht so aus, als hätten all jene Empfindungen des Staunens zusammen mit der Moral die Seite gewechselt. Die Frage, die wir uns heute stellen, lautet eher: Wie kann man mir diese Schuld vorwerfen, ohne daß ich mich im geringsten schuldig fühle, ohne daß ich irgend etwas Böses getan habe? Der Mensch als kollektiver Akteur, von dem behauptet wird, er habe die Tat begangen, ist keine Figur, über die man nachdenken, die man kritisch beäugen oder messen kann. Diesem Menschen begegnet man nicht. Er ist nicht einmal dasselbe wie das Menschengeschlecht als Ganzes, denn der Verursacher ist nur ein Teil des Menschengeschlechts: Es sind die Reichen und die Wohlhabenden, also eine Gruppe ohne klare Konturen, ohne Grenze und gewiß ohne politische Vertretung. Wie kann es denn sein, daß »wir« es waren, die »all das« getan haben, wo es doch gar keinen politischen, moralischen, denkenden oder fühlenden Körper gibt, der »wir« sagen kann – noch jemanden, der stolz verkündete: »Jetzt ist Schluß mit dem Weitergeben des Schwarzen Peters!« Denken wir doch nur an die erbärmlichen Sitzungen, die 2009 in Kopenhagen stattfanden, als alle diese Staatsoberhäupter in Geheimverhandlungen einen unverbindlichen Vertrag auskungelten, wobei sie einander beschimpften und wie die Kinder um einen Beutel mit Murmeln feilschten.
    Doch der zweite Grund, warum das Erhabene verschwunden ist und warum wir uns wegen der Verübung von Verbrechen, für die wir keine Verantwortung empfinden, so schuldig fühlen, ist die zusätzliche Komplikation, die durch die Klimaskeptiker oder vielmehr (um den Gebrauch des positiven und ehrwürdigen Ausdrucks »Skeptiker« zu vermeiden) die Klimaleugner ins Spiel kommt. Sollen wir diesen Typen die gleiche Gelegenheit wie den Klimaforschern geben, um ihre Gegenposition zu vertreten? In diesem Fall riskieren wir, unsere Verantwortung abzuwälzen und mit Kreationisten gemeinsame Sache zu machen, die gegen Darwin und die ganze Biologie kämpfen. Oder sollen wir Partei ergreifen und uns weigern, den Leugnern eine Plattform zu überlassen, um
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